So habe ich es mir nicht vorgestellt
grauen Fensterläden, das hartnäckig an der lauten Straßenkreuzung übriggeblieben war –, sah von der Höhe des Balkons aus wie die alte Hütte der Fischersfrau. Erst nachdem das Mädchen die Brille bekommen hatte, bemerkte sie die Kipa auf dem Kopf des Jungen und auch auf dem Kopf seines Vaters, und die beiden wirkten schon nicht mehr wie aus einem Märchenbuch, sondern sahen aus wie auf einem Bild im Lesebuch der zweiten Klasse. Und die Frau, die aus der braunen Tür in den verwahrlosten Hof trat, mit einer Blechwanne voll nasser Wäsche, die sie an der Leine zwischen zwei krummen Pfosten aufhängte, sah plötzlich jung und farbig aus. Es war, als hätte die Brille auch die Farben stärker gemacht. Was vorher ausgesehen hatte wie weiße Haarflocken, die unter dem Kopftuch herauslugten, stellte sich nun als Spitzenrand heraus.
Bis zu dem Augentest hatte sie oft genug den besorgten Blick ihrer Eltern bemerkt, wenn sie die Augen zusammenkniff, um schärfer zu sehen. Sie hatte in ihren Gesichtern einen ängstlichen Verdacht gesehen, den Verdacht von Leuten, die nicht auf die einfachste Lösung kamen. Sie selbst hatte überhaupt nicht bemerkt, daß sie eine Falte zwischen den Augen bekam und die Lider zusammenkniff. Nach der Untersuchung zeigten sich die Eltern erleichtert darüber, daß ihr konzentriertes Schauen keineswegs ein weiterer Beweis dafür war, wie schwierig dieses Kind war, sondern lediglich ein – wenn auch vergeblicher – Versuch, besser zu sehen. Bei solchen Sehwerten, sagte der Augenarzt, handelt es sich nicht um eine plötzlich aufgetretene Schwäche, die gerade angefangen hat, das Mädchen sieht schon lange kaum etwas. Ihr ging das Herz auf. Und sie war stolz, als sie den vorwurfsvollen Unterton in der Stimme des Arztes wahrnahm.
Das nackte Gesicht der Mutter, auf dem Angst und Schuldgefühle zu sehen waren, gefiel ihr. Plötzlich war alles anders, für einen Moment war sie diesem blauen, alles sehenden Blick nicht hilflos ausgeliefert, mußte sie nicht, um ihm auszuweichen, lesen oder sich schlafend stellen. Selbst dann, wenn sie hörte, wie die Schritte zu ihrem Bett kamen und innehielten, hatte sie oft genug das Gefühl, der Blick dringe durch sie hindurch. Wenn sie sich schlafend stellte, preßte sie die Augen mit aller Kraft zu, und wenn die Mutter das Zimmer dann verließ, lag sie in der Dunkelheit, und hinter ihren Lidern tanzten rote Flecken. Nur wenn sie las, mit angezogenen Beinen und spitzen, vorstehenden Knien, das Buch auf dem Schoß, den Kopf darüber geneigt, ließen die allwissenden Augen der Mutter sie in Ruhe. Diese Augen, die immer alles sahen. Zum Beispiel den lilaschwarzen Fleck auf der weißen Bluse, einen Fleck, der nie rausgehen würde, weil Erdbeersaft, ebenso wie der Saft von Wassermelonen, nie auszuwaschen war, oder die Sicherheitsnadel, die das Mädchen mit viel Mühe in den Gummizug der blauen Turnhose gesteckt hatte: sie trug sie unter dem kurzen Kleid, das ebenfalls aus einem Paket aus Amerika stammte und das sie immer anzog, wenn der rosafarbene Matrosenanzug gewaschen werden mußte; den liebte sie besonders, weil seine Hose mit einem festen Bündchen unter dem Knie aufhörte und wegen des breiten, weißen Kragens. Und siehe da – diese Augen hatten nichts von ihrer Kurzsichtigkeit bemerkt, und dann, beim Augenarzt, spiegelte sich Reue in ihnen.
Auf dem Weg zur öffentlichen Bücherei, mit der Brille mit dem runden, schmutziggelben Gestell und den dicken Gläsern, ist er wieder da, dieser Anblick der verschwimmenden Konturen im Licht der Straßenlaternen, und auch mit Brille muß sie sich bücken, um sicher zu wissen, daß das, was sich fast am Randstein zwischen den Steinen verbirgt und wie ein silberner Ring aussieht, nichts anderes ist als ein Kronenkorken.
Sie ist bei zwei Bibliotheken angemeldet worden. Jeden Tag nach der Schule geht sie zwischen den beiden hin und her. An diesem Tag hat sie schon auf dem Heimweg mit Der fünfunddreißigste Mai angefangen, das ihr Josef, der Bibliothekar, mittags gegeben hat, und schon um drei hat sie kein Buch mehr gehabt. Als er ihr Der fünfunddreißigste Mai hingehalten hat, hat sie nicht gesagt: Das habe ich schon gelesen, denn sie mag dieses Buch, und es machte ihr nichts aus, es noch einmal zu lesen. Weil sie wußte, daß sie, nachdem sie es ausgelesen hätte, nichts anderes mehr haben würde, versuchte sie, die Zeit zwischen den einzelnen Wörtern auszudehnen. Sie ließ sich in das Buch hineinziehen und wußte
Weitere Kostenlose Bücher