Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
ist, die Bücher lieben. Doch der Gesichtsausdruck Frau Desirées ändert sich auch nicht, wenn das Mädchen sagt, das Buch sei besonders schön gewesen, es kommt ihr sogar vor, als würde sie um so demonstrativer ignoriert, je größer ihre eigene Aufregung ist und je mehr sie ihre Vorsicht vergißt. Und wenn sie ihre Vorsicht vergißt und zu fragen wagt, ob es noch ein anderes solches Buch gebe, dreht ihr Frau Desirée bestimmt den breiten Rücken zu und läßt den Blick über die Bücherregale gleiten, die das Zimmer füllen, bis sie dann wortlos und mit einer schnellen Bewegung, wie in der Absicht, sie das Schweigen zu lehren, ein anderes Buch herauszieht, ein beliebiges, und es ihr mit zornigem Fauchen reicht.
    Bei Josef lohnt sich die Mühe nicht. Auch ihm ist nie anzumerken, daß er sie erkennt. Jedesmal hält er die Prüfung ab, von der man hätte denken können, sie sei ein Hinweis auf eine persönliche Beziehung, aber die mürrische, verschlafene Art, in der er seine Fragen vorbringt, und die Gleichgültigkeit, mit der er sich die richtigen Antworten anhört, zeigen ihr, daß sie besser gleich aufgibt. Die Tatsache, daß sie seine Fragen immer beantworten kann, hält ihn nicht davon ab, sie stets aufs neue zu prüfen. Auch er, der ein korrektes Hebräisch spricht, nennt sie nie beim Namen, er begrüßt sie auch nicht, als stünde sie nicht oft genug sogar zweimal am Tag vor ihm. Und dabei weiß sie schon lange, daß nicht alle Kinder so lesen wie sie. Sie möchte ihn daran erinnern, daß es sich für ihn lohnt, freundlich zu ihr zu sein, denn sie ist ein Mädchen, das viel liest. Sie ist, wie ihre Lehrerin Siwa bei der Elternversammlung zu ihrer Mutter gesagt hat, etwas Besonderes und hat Phantasie. (Obwohl ihre Mutter an jenem Abend, als sie von der Elternversammlung zurückgekommen war, den Ausspruch der Lehrerin irgendwie mißtrauisch wiedergegeben hatte, als habe er nur den Zweck, sie, die Mutter, zu beruhigen und wegen der fleckigen Hefte und der herausgerissenen Blätter zu trösten, wegen des schlechten Geruchs, der von ihren Turnhosen aufstieg, die sie starrsinnig unter dem weißen Kleid trug, wegen Zofia Schemeschs Brille, die sie zerbrochen hatte, und wegen ihrer Knie, die während der Chanukkafeier der Schüler grau und schmutzig unter dem roten Samtrock hervorgeschaut hatten, als sie auf der grob aus braunen Brettern ge-zimmerten Bühne gestanden und, als körperliche Schwerarbeit, vor allen Kindern die Geschichte der Makkabäer vorgelesen hatte.)
    Sie hätte Josef, dem Bibliothekar, gern gesagt, daß sie seine Grausamkeit spürt, die hinter seiner wohlüberlegten Kälte liegt, eine Grausamkeit, deren man Frau Desirée nicht beschuldigen kann. Ihre geschärften Sinne, mit deren Hilfe sie den wechselnden Ausdruck der alles sehenden blauen Augen einzuordnen gelernt hat, sagen ihr, daß Frau Desirée nicht aus eigenem Willen zornig ist, sondern daß der Zorn schon vorher in ihr war, daß er nichts Persönliches bedeutet und nichts mit dem zu tun hat, was sie sagt oder tut. Sie spürt, daß Frau Desirée selbst ihr befremdliches Verhalten nicht genießt und es überhaupt nicht wahrnimmt, sondern daß es an ihrem gestammelten Hebräisch liegt, an ihrer Zerstreutheit und an der Angst, die ihren Augen anzusehen ist, Augen, die nach links und nach rechts rollen wie die braunen Kugeln auf der Rechenmaschine, die ihr der Vater vor längerer Zeit einmal mitgebracht hat. Manchmal ist sie traurig, weil eigentlich ein Bündnis zwischen ihnen hätte bestehen müssen, das Bündnis von Menschen, die wissen, was sich zwischen Buchdeckeln verbirgt. Doch sie sagt nie etwas, vor allem nicht zu Josef, dem Bibliothekar. Normalerweise senkt sie die Augen, wenn er zu sprechen beginnt, und dort, wo die Oberlippe und die Unterlippe zusammenstoßen, der weißliche Schaum in seinen Mundwinkeln erscheint. Sie spürt, daß nichts, was sie sagen könnte, seine Beziehung zu ihr ändern würde, weil nämlich etwas an ihr ihm verrät, daß sie kein gutes Mädchen ist, und weil Josef einmal gesagt hat, ihre Liebe zum Lesen sei nichts als Verstellung, mit deren Hilfe sie etwas anderes erreichen wolle. Hätte er ihr erklärt, wessen er sie eigentlich verdächtigt, hätte sie auch gewußt, was es ist, das sie auch in ihren eigenen Augen so zweifelhaft erscheinen läßt. Aber die Entschiedenheit, mit der er vom ersten Tag an ein Buch auf die Holztheke gelegt und ihre Lesernummer aufgeschrieben hat, ohne den Blick zu heben, die

Weitere Kostenlose Bücher