Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
Zerstreutheit, mit der er ihr das Buch hinhält, nachdem er näselnd ihren Namen gemurmelt hat, hält sie davon ab, irgend etwas zu sagen.Wie ist es möglich, daß so unangenehme Menschen – eigentlich Feinde – über so wichtige und wunderbare Schätze herrschen? Wer hat entschieden, daß ausgerechnet Josef Bibliothekar sein soll und daß eine Frau wie Frau Desirée, zu der es überhaupt nicht paßt, in ihrem Privathaus eine Leihbücherei eröffnet, zerrissene Seiten sorgfältig wieder zusammenklebt und sich die Mühe macht, Bücher, in die braune Kartontaschen geklebt sind, die sie selbst geschnitten hatte, in braunes Papier einzuwickeln? Frau Desirée ist vermutlich eine kinderlose Frau, denn sie lebt allein in ihrer Wohnung voller Bücher und kommt immer hinter dem Vorhang hervor, der den Rest der Wohnung von dem Zimmer mit den Büchern trennt. Um diese Gedanken beiseite zu schieben, ist es besser, an den letzten fehlenden Band von Die Kinder des Kapitän Grant zu denken, den Frau Desirée zu besorgen versprochen hat, aber immer wieder vergißt, an die letzten zerrissenen Seiten von Old Shatterhand , und man muß sich bemühen, an ihr zitterndes Kinn zu denken, an die Haare, die aus der Warze wachsen, denn eine Frau, die einem vorenthält, was man will, und wenn sie es einem doch gibt, dann immer widerwillig, verdient kein Mitleid.
    Manchmal kommt ihr der Gedanke, daß sie eines Tages alle Bücher von Frau Desirée ausgelesen haben wird und ihr dann nur noch Josef bleibt, der Bibliothekar.
    Es ist Dienstag. Dienstags ist die Bücherei Desirée ab fünf Uhr geschlossen, und dienstags gehen ihre Eltern immer in die zweite Vorstellung des Kinos Ordea. Ihr Vater hat ihr schon im voraus gesagt, daß sie pünktlich nach Hause kommen müsse, ohne Tricks und ohne Ausreden, damit sie genügend Zeit haben, sie und ihren kleinen Bruder ins Bett zu bringen, auf den sie an den Abenden, an denen ihre Eltern ausgehen, aufpassen muß. Solche Abende versprechen immer ein großes Glück. Sie wird allein sein, ohne den blauen Blick der Mutter, sie kann in den Kleiderschränken herumwühlen, die Fuchsschwänze streicheln, die in ein weißes Stoffsäckchen eingepackt sind und nach Naphthalin riechen, zugleich aber auch nach einem süßen Blumenparfüm, sie kann die Perlenkette anlegen, die blaue Kette und die Margaritenohrringe, sie kann die Schuhe mit den hohen Absätzen aus der unteren Schublade anprobieren und in der roten Dose mit dem Bild der Japanerin in einem Kimono und mit einem Fächer in der Hand wie Nuriko San in den geheimen Papieren herumwühlen, auf denen in dicken, schwarzen Buchstaben wichtige Wörter wie »Zeugnis« und »Berechtigung« stehen, und sie wird tatsächlich bis spät in die Nacht lesen können, ohne darum kämpfen zu müssen, so lange, bis sie das Geräusch des Schlüssels an der Tür hören, schnell die Nachttischlampe ausmachen und sich schlafend stellen wird. Jedesmal vergißt sie, daß im Haus, sobald die Eltern weggegangen sind – beide gut riechend, die Wangen des Vaters ganz glatt, wenn er sich über sie beugt und ihre Wange berührt –, nur eine erschreckende Leere zurückbleibt. Sie tut dann, was ihre Eltern vorher getan haben. Sie beugt sich über das Gitterbettchen ihres kleinen Bruders, berührt seine Ärmchen und schnuppert geräuschvoll an ihm, wie ihr Vater es getan hat, als er in der Küche am Nacken ihrer Mutter gerochen hat, und bekommt fast Tränen in die Augen, wenn sie an ihre Verlassenheit denkt, an die große Verantwortung, die ihre Eltern auf ihre schmalen Schultern gelegt haben, nämlich die Unversehrtheit und Süße in den runden Bäckchen des Babys, das sie noch nicht einmal füttern kann, zu bewachen. In solchen Momenten quält sie dann sogar die Sehnsucht nach dem blauen Blick, der alles sieht und nie nachgibt. Viele Male ist sie wach geblieben, bis ihre Eltern zurückkamen, doch immer hat sie sich schlafend gestellt. Wenn das Baby aufwachte und weinte, nahm sie es auf den Arm und wiegte es hin und her, überwältigt von der Angst, es würde nicht aufhören, und manchmal weinte sie selbst, weil sie es nicht schaffte, den Kleinen zu beruhigen. Wenn er aber durchschlief, weckte sie ihn mit Zwicken und Schütteln, damit sie ihn neben sich ins Bett legen konnte. Einmal war er von ihrem Bett auf den Teppich gerollt und hatte dort weitergeschlafen, bis ihre Eltern zurückgekommen waren.
    Wenn sie rennt, kann sie den Weg von zu Hause zur Bücherei in einigen Minuten

Weitere Kostenlose Bücher