So habe ich es mir nicht vorgestellt
Fernsehgebäude weit hinter ihr aufblitzen. Ihr Herz klopfte heftig, als das Mädchen plötzlich wieder zu sehen war. Sie ging mit kleinen, langsamen Schritten, und wenn ihr der Wind den Rock gegen die Beine wehte, sahen sie aus wie lange, dünne Pfähle. Sie hielt den Kopf ergeben gesenkt, den Blick auf den Gehsteig gerichtet. Da stand Hila auch schon vor ihr, sagte offenbar etwas, denn das Mädchen hob den Kopf. Von weitem war nichts zu erkennen, außer dieser Bewegung des Kopfes. Wie im Untersuchungszimmer hatte sie die Arme an den Körper gedrückt und die Brust nach innen gewölbt. Ihre Schultern waren noch stärker gebogen, die ganze Gestalt hatte etwas Flehendes. Jo’ela sah Hilas gebeugten Rücken, ihre Arme, die sich in weitem Bogen bewegten, im Gegensatz zu dem zusammengezogenen Körper des Mädchens. Bei dem Anblick stieg wieder dieses Bedauern in ihr auf, stärker als der Schauer, der ihr über den Rücken lief, und trieb ihr Tränen in die Augen. Eine Traurigkeit ging von dem Mädchen aus, die alles umfaßte, auch sie selbst. Für einen Augenblick tauchte das Bild eines Mädchens vor ihr auf, eine Momentaufnahme, ein Mädchen mit hellen Zöpfen und weit offenen Augen, darauf wartend, daß sie endlich Kraft hätte, den Kummer zu beenden, sah die breiten Treppen, hörte die chromatische Tonleiter, die entscheidenden Klänge, wußte, wie ein bitteres Echo, daß das Ersehnte nie Wirklichkeit würde.
Das junge Mädchen stand bewegungslos da, wie erstarrt. Sie senkte den Kopf auf dem dünnen Hals, und erst als Hila mit einer weiten Bewegung zum Auto hinüberdeutete, hob sie, offenbar entsetzt, das Gesicht. Jo’ela schob sich die Brille zurecht, um alles genauer zu erkennen, und einen Moment sah es aus, als wolle das Mädchen Hila gehorsam folgen, doch dann hob sie mit einem Ruck den Kopf, blickte über Hilas Schulter hinweg Jo’ela an, die dort saß und wartete, dann drehte sie sich blitzschnell um und lief in die entgegengesetzte Richtung davon, wobei sie mit einer Hand ihren Rock an den Körper drückte. Als steckten Nadeln darin, wie in der Erzählung Drei Geschenke von Perez, die den Stoff an dem langen, vorwärtsstrebenden Körper befestigten, sich ins Fleisch bohrten, ohne Zeichen zu hinterlassen und ohne daß Blut floß.
»Fahr ihr hinterher«, verlangte Hila, die rasch ins Auto sprang. »Los, schnell.«
Jo’ela saß da wie gelähmt.
»Warum fährst du nicht?« rief Hila. »Außerdem muß ich nach Hause, vielleicht ruft Alex an, oder er sucht mich …«
»Das hier ist kein Kino«, sagte Jo’ela. »Es ist sinnlos. Sie geht nach Hause, und dort können wir nicht mit ihr sprechen. Du hast sie verjagt.«
»Ich habe nur gesagt, daß die Ärztin im Auto wartet und daß sie mit ihr reden soll, mehr habe ich nicht sagen können, da war sie schon verschwunden, wie … wie Luft.«
»Es ist nicht wichtig«, erklärte Jo’ela. »Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich von ihr will.«
»Rettung, das ist es, was du von ihr willst«, antwortete Hila und atmete tief ein, als wolle sie gleich eine ihrer blumigen Reden halten, doch dann sagte sie nur: »Die Welt reparieren«, und schwieg. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel, drückte mit zwei Fingern an einem schwarzen Punkt auf ihrer Wange herum, wühlte dann in ihrer Schminktasche und begann, ihrem Gesicht die Farben wiederzugeben, die sie morgens abgewaschen hatte, die Wimpern schwärzte sie mit Mascara. Weil sich Hila normal benahm wie immer, weil sie sprach wie immer, als sei nichts passiert, als sei das Mädchen eines von vielen, wich das bedrückende Gefühl von Jo’ela und machte einer tiefen Scham Platz. Einer Scham darüber, daß sie sich hier befand, daß sie einem verrückten Impuls nachgegeben und auf eine innere Stimme gehört hatte, statt ganz normal ihre Arbeit zu tun, daß sie dem Mädchen folgte wie eine Diebin, einer Scham über die Rötung ihrer Nase, die sie im Spiegel wahrnahm, über die Tränen, die sie gestern vergossen hatte, die Schwäche, die innerlich an ihr nagte und der sie Macht über sich einräumte, auch darüber, daß sie sich ins Bett gelegt hatte, als wäre sie krank, daß sie so schnell wieder aufgestanden war, über ihre Hände, die kraftlos in ihrem Schoß lagen, daß sie neben Hila saß und auch über das, was sie ihr gezeigt hatte. Denn was hatte sie mit diesen orangefarbenen Haaren zu tun, die jetzt unter dem Kopftuch hervorkamen, was mit der sensationslüsternen Hila, deren Kopf voller banaler
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