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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Scham.«
    »Für dich ist alles ein Abenteuer«, sagte Jo’ela und drückte auf den Schmerzpunkt zwischen Nase und Wangenknochen. »Ich brauche dich doch nur anzuschauen, um zu wissen, wohin dich das gebracht hat. Man könnte Gott weiß was denken. Und diese ganzen psychologischen Klischees, die du von dir gibst. Wie geht es Alex?«
    »Gut, denke ich, ich habe gestern nicht mit ihm gesprochen«, antwortete Hila, ohne beleidigt zu sein. »Und ich bin kein Beispiel für irgend etwas, von mir darf man sich nichts abschauen. Aber wenn du nur ein bißchen von dem annehmen würdest, was ich in dieser Hinsicht habe, dann sähe bei dir alles ganz anders aus. Zum Beispiel müßtest du nicht auf so vieles verzichten wegen der Energie, die dich deine inneren jüdischen Kämpfe kosten. Eine Woche ohne Fragen, wozu etwas gut ist. Das ist alles, was ich von dir will. Und daß du mit mir zu diesem russischen Heiler gehst.« Plötzlich erschrak Hila und richtete sich auf. »Hast du sie gesehen? Paß auf, daß wir sie nicht verpassen.«
    »Nein, noch nicht«, sagte Jo’ela. »Vielleicht ist sie ja gar nicht da.« Sie hoffte fast, das Mädchen wäre nicht da. Sie war aufgeregt, und bei dem Gedanken, sie möglicherweise wiederzusehen, von Angesicht zu Angesicht, vielleicht sogar ihre Stimme zu hören, spürte sie auch wieder Angst. Vielleicht war es besser, sie nicht mehr zu sehen, sich nicht mehr um sie zu kümmern, damit sie stumm blieb, ohne menschliche Stimme, die Dummheiten und Lügen aussprach, vor allem nicht zusammen mit Hila, die mit einem Blick auf das Mädchen fragen würde: »Sie? Das ist sie also? Alles wegen ihr?«
    Die kostbarsten unserer Träume, Vögelchen mit gelbem Flaum und empfindlich gegen Kälte, lassen wir auf ihren kleinen Beinchen zu unserem Nächsten trippeln, dem möglichen Verbündeten. Immer wieder reden wir uns ein, er werde sie schon, wenn wir es nur zulassen, aufheben und in seinen weichen Händen wärmen, und jedesmal reagieren wir mit Entsetzen, wenn sie fallen gelassen oder zerdrückt werden, klein geworden im Licht eines fremden Bewußtseins.
    »Sie ist bestimmt da«, murmelte Hila.
    »Da!« rief Jo’ela und deutete auf eine Gestalt, die außerhalb der Gruppe lief, unsicher, mit einem Kopf, der auf dem dünnen Hals zu schwanken schien. Der Wind blies ihr den Rock um die schwarzbestrumpften Beine.
    »Die in der Ecke?« erkundigte sich Hila aufgeregt und drückte mehrmals auf den Auslöser, ohne die Antwort abzuwarten, bevor sie sich umdrehte und sagte: »Die in der Ecke, die Große?«
    Jo’ela nickte und stemmte die Füße gegen den Autoboden.
    »Ich habe es ja gewußt«, versicherte Hila stolz. »Bald werden wir es sehen. Was wir sehen werden? Ich habe dir gesagt, daß wir etwas sehen werden, bestimmt!«
    Der Gedanke daran, daß Hila an der Sache beteiligt war, daß in gewisser Weise das Mädchen auch ihr gehören würde, weckte Jo’elas Widerstand. Wenn zwei Menschen etwas betrachten, gleichzeitig, am selben Ort, kann, wenn auch nur in Ausnahmefällen, eine Gemeinsamkeit entstehen, der Preis dafür ist jedoch der Verzicht auf das Geheimnis. Außerhalb dieses Geheimnisses, in der Realität, war das Mädchen ein kümmerliches, leicht groteskes Geschöpf. Dicke schwarze Strümpfe, ein langer blauer Rock, ein straff gekämmter Zopf, eine weiße Stirn. Nur sie, Jo’ela, wußte, was für ein Zauber von der kreideweißen Haut ausging, die sich so süß anfühlte, sie kannte den hohlen Körper, den reinen, von jeglichem Schmutz unberührten Schmerz.
    »Warte einen Moment«, sagte Hila, warf die kleine Kamera auf den Rücksitz und sprang aus dem Auto, bevor Jo’ela sie zurückhalten konnte. Jo’ela selbst blieb wie erstarrt sitzen. Keine Kraft der Welt hätte sie dazu bewegen können, auszusteigen, sich dem Mädchen zu nähern, sie auf der Straße zu berühren, ihre Stimme zu hören. Sogar hier sah Hila mit ihrem rundlichen Körper, dem langen Rock und den schwarzen Strümpfen, mit dem Kopftuch, das sie umgebunden hatte, ziemlich lächerlich aus, wie sie jetzt nach links und rechts blickte und die Straße überquerte, als sei sie eine von ihnen. Sogar wenn man sie in eine Nonnentracht steckte und ihr eine Haube aufsetzte, würde Hila immer wie Hila aussehen.
    Ganze Gruppen von Mädchen in hellblauen Blusen, schwarzen Strümpfen und mit straff gekämmten Zöpfen verdeckten den Blick auf die eine dort, auf der anderen Straßenseite. Im Rückspiegel sah sie die großen Metallscheiben auf dem

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