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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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fragt nicht, wie lange es dauert, bis sie selbst so spielen kann, daß es weh tut. Sie fragt, wie lange es dauert, bis sie so schwere Stücke spielen kann wie diesen Chopin. Das hängt davon ab, wieviel sie übt. Manchmal beschließt sie: weiter, weiter, weiter. Eine Tonleiter nach der anderen, die Etüden von Czerny und alles. Einen Tag nach dem anderen. Aber die Zeit vergeht, und die Diskrepanz zwischen dem, was das Ohr hören will, und dem, was die Hand kann, wird immer größer. Und die Klavierlehrerin ist so häßlich. Das Mädchen kann nicht warten. Sie widmet ihre ganze Hingabe einer Sonatine von Beethoven. Sie beugt sich über die Tasten und bemüht sich, die Töne weich und hart klingen zu lassen. Für einen Moment vergißt sie alles, außer den Klängen. Ihr Vater stürzt aus dem anderen Zimmer herein. Sie hat einen Fehler gemacht. Im Stehen spielt er ihr die Stelle vor. Diese Leichtigkeit, mit der seine Finger über die Tasten gleiten und so etwas Schönes hervorbringen. Das wird sie nie können. Jetzt ist sie ganz sicher. Und wenn sie es nicht richtig können wird – dann ist es besser, es gar nicht zu können. Kampf lohnt sich nur da, wo man Aussicht auf Erfolg hat. Woanders, zum Beispiel bei Josef, dem Bibliothekar, braucht man es gar nicht zu versuchen. Da wird sie lieber zu dem Frosch, der aufgibt und in dem Glas Milch er trinkt. Bis sie das verstanden hat, hat sie aus aller Kraft mit den Händen weitergeschlagen, in der Hoffnung, daß aus der Milch Butter wird. Aber jetzt weiß sie, daß aus ihrem Klavier, trotz Leipzig und den Medaillen und allem, nicht der richtige Klang herauskommen wird und daß Ewigkeiten vergehen werden, bis sie – wenn überhaupt – Chopin werden wird. Es ist sogar verboten, Musik auch nur zu hören.
     
    Das alte Klavier schläft, vielleicht ist es sogar tot. Es schweigt, der schwarze Deckel ist zugeklappt, die Melodien sind drinnen. Niemand sieht sie, niemand weiß es. Auch der Kreis, in dem der Spiegel gewesen ist, ist versteckt, auch die Stellen, an denen die Kerzenhalter waren. Von außen sieht es wie ein normales schwarzes Klavier aus, mit Schnörkeln an den Beinen. Auf vier Fliesen sind Rostflecken von den kleinen Rädern zu sehen. Und auf dem Klavier thront, auf einer rechteckigen, weißen, mit Blumen bestickten Decke, eine goldangemalte Büste Beethovens, an deren Rändern die Farbe abblättert. Daneben stehen die rote venezianische Vase, ohne Blumen, und die grüne Schale, auf die ein Schäfer und eine Schäferin auf einer grünen Weide gemalt sind, dazu noch ein weißer, glatter Hund, aus dessen rosafarbenem Gaumen spitze Porzellanzähne ragen. Das Klavier ist wie ein Möbelstück unter anderen Möbeln und braucht Platz. Wenn das Mädchen der Mutter helfen muß, wischt sie mit dem gelben Staubtuch über die Schnörkel, hebt den schweren Deckel hoch und schlägt mit dem Lappen auf die Tasten.
     
    Aus dem kleinen Lautsprecher im Kinderzimmer, der an das Radio im Wohnzimmer angeschlossen ist, kommt ein Hörspiel. In der Dunkelheit hört sie zu. Eine Hand dreht an dem Knopf, und plötzlich sind im Zimmer die Klänge der verabscheuten Trompete zu hören. Erschrocken springt sie aus dem Bett, um die Störung zu beseitigen. Der Vater hebt die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen: Nicht jetzt. Im Winterpyjama, mit nackten Füßen, läuft sie zum Wohnzimmer, dreht selbst an dem schwarzen Knopf. Er sitzt in dem braunen Sessel, mit geschlossenen Augen. Sie wird ihren Schmerz nicht zeigen. Sie wird die Trompetenklänge nicht zulassen. Er schlägt auf ihre Hand und dreht wieder zurück.
    Das ist doch Mahler! sagt er protestierend zur Mutter, die kommt, um zu vermitteln. Gib nach, sagt die Mutter, laß sie doch. Sein Gesicht wird blaß vor Zorn. Sie soll sich Mahler anhören, fordert er. Aber das Mädchen wird sich niemanden anhören, weder Mahler noch sonst jemanden. Sie gibt nach, verkündet aber Krieg. Sie kann nicht. Die Stelle, an der die Klänge ins Innere sickern und anfangen können zu brodeln, wird nicht mehr aufgebrochen werden. Sie kann sein Gesicht, auf dem sich die nackte Sehnsucht nach einer anderen Welt zeigt, nicht mehr ertragen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit leeren Händen zu warten.

11. Scham
     
    Ein warmer Wind blies die blauen Glockenröcke der Seminarschülerinnen auf und wirbelte Staub durch die Luft. Sie meinte, aus dem Zoo neben Beit Ja’akow das Brüllen wilder Tiere zu hören. »Schon seit neun Tagen haben wir Chamsin«, sagte

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