So habe ich es mir nicht vorgestellt
Sprüche und trivialer Gedanken war, was hatte sie mit dieser anarchischen Angelegenheit zu tun, die sie an diesem Vormittag noch erwartete? Was war die Erklärung dafür, daß sie – zwar zögernd und halbherzig, aber es war eine Tatsache, daß sie das Bett verlassen hatte, das Haus – zugestimmt hatte, mit Hila diesen dubiosen Mann aufzusuchen, diesen Kurpfuscher, den Wunderheiler aus Rußland, der erst seit zehn Monaten hier lebte? Schon als Hila begeistert und ohne jede Spur von Ironie seine Fähigkeiten rühmte, hatte sie diese Verwirrung gespürt. Bis jetzt hatte Hila noch kein weiteres Wort über das Mädchen gesagt. Für Hila war das Mädchen eine Kuriosität. Sie hätte sich nicht von ihr verführen lassen dürfen. Hila wollte das Foto zu diesem Heiler bringen. Der könne auch an einem Foto alles erkennen, behauptete sie.
»Gut, dann fahren wir jetzt und lassen den Film entwickeln«, sagte Hila und warf die Leinentasche auf den Rücksitz.
»Wozu?« sagte Jo’ela düster. »Diese Henia Horowitz interessiert mich nicht mehr.« Für einen Moment bereitete ihr die Art, wie sie den Namen aussprach, ein seltsames Vergnügen, als verringere sie das Problem, als mache sie das Mädchen zu einer von vielen, ein armes Ding, das man gleich wieder vergessen konnte. Aber das Vergnügen schwand sofort, und die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. Sie erschrak vor dem Verrat.
»Aber vorhin hast du es doch auch gewollt, du warst einverstanden«, widersprach Hila.
»Vorhin war es anders«, sagte Jo’ela. »Jetzt möchte ich nach Hause, ins Bett, ich fühle mich nicht wohl.« Über Schmerzen zu klagen befreite einen manchmal davon, andere Erklärungen abgeben zu müssen. Aber es klappte nicht.
»Was ist? Habe ich etwas gesagt oder habe ich etwas nicht gesagt?« beharrte Hila.
Jo’ela schwieg. Sie müßte den Zündschlüssel umdrehen, aber ihre Hände lagen bewegungslos auf ihrem Schoß.
Hila ließ nicht locker. »Ist es deshalb, weil sie mich nicht so beeindruckt hat?«
Es reichte nicht, sich über sie zu ärgern, sie verlangte auch noch, daß man darüber redete, sie wollte, daß man ihr den Kummer erklärte.
»Jo’ela«, sagte Hila weich, »so habe ich es nicht gemeint, du brauchst nicht so … so … Es spielt überhaupt keine Rolle, was ich denke oder was ich sage, sie ist wirklich nur deine Angelegenheit, ich kann sie nicht so sehen wie du, für mich ist sie nicht dasselbe wie für dich, für mich ist sie ein Objekt der Neugierde, und sie sieht wirklich seltsam aus. Da kann man nichts machen, ich kann nur immer wieder sagen, sie sieht seltsam aus. Sie ist kein Bild von Botticelli, sie ist kein Klarinettenquintett, sie ist kein Gedicht. Für dich hat sie eine ganz private Bedeutung, und das reicht mir. Für mich bist du die Hauptsache, nicht sie, deshalb mußt du dich nicht schämen, ich erzähle dir doch auch … Ich erzähle dir doch auch jeden Tag von meinen Ängsten. Gib doch mal nach, laß mich teilhaben, dann fühlst du dich gleich leichter.«
»Nachgeben? Habe ich die Freiheit, zu entscheiden, ob ich hier nachgeben möchte oder nicht? Habe ich mir die Scham etwa freiwillig ausgesucht?«
Hila seufzte. »In gewisser Weise schon. Man muß sich anschauen, welche Vorteile einem die Scham bringt. Natürlich kann man alles in sich bewahren, die Scham mit Klauen und Nägeln festhalten, um sie nicht mit irgend jemandem zu teilen, das geht, aber am Schluß … Als ich dir gestern von diesem Heiler erzählt habe, hast du nicht gelacht, aber ich habe gewußt, was du denkst. Und ich sage dir, zwischen dem Alleinsein, weil man sich wegen der Scham nicht mitzuteilen wagt, und dem Alleinsein, weil einen etwas ganz allein angeht, ist ein Unterschied. Ich ziehe die zweite Möglichkeit vor, weil man dann doch nicht ganz allein ist.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Jo’ela mit erstickter Stimme, »man ist noch einsamer als vorher.«
»Nur weil du nicht verstehst, wie wichtig du mir bist, daß ich dir gegenüber überhaupt nicht ironisch bin. Das ist auf keinen Fall wie Gurow mit dem Mann vor dem Klub.«
»Was für ein Gurow?« fragte Jo’ela wütend. Sie erwartete wieder eine von Hilas sinnlosen Assoziationen, denn die Freundin runzelte schon konzentriert die Augenbrauen und sprach schnell, um den Gedanken nicht zu verlieren. Manchmal schienen bei ihr die Worte vor den Gedanken zu kommen. Jo’ela wandte den Kopf zur Seite, um dieses vor Anstrengung und Konzentration vorgeneigte Gesicht nicht sehen
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