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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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»unsere Gesichter entstellt, der Tod blickt uns aus den Augen.«
    Hila lehnte sich gegen den Türrahmen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Die Worte, die sie in diesem Moment hörte, als sei es das erste Mal, und die überall im Land am Gedenktag gesagt wurden, jedes Jahr, immer wieder, und bei denen kein Mensch mehr richtig hinhörte, nur noch den schweren Rhythmus wahrnahm. Aber die Worte! Wir sind in eine Reihe gelegt worden. Unsere Gesichter sind entstellt.
    Wie dünn Jo’ela in den letzten Wochen geworden war. Und auch ihre Haare, die ihr bis auf die Schulter fielen, hatten den alten Glanz verloren. Zwei Falten hatten sich um ihre breiten, trockenen Lippen gegraben. Hinter ihren dicken Brillengläsern blitzten ihre kleinen, hellen Augen, die dünnen Lider blinzelten. In ihrer Haltung, die Hüften abgeknickt, den Rücken an das Spülbecken gelehnt, die Hände im Gürtel, sah sie aus wie eine jugendliche alte Frau. Über dem langen Kör
    per ein Gesicht, dem es bestimmt war zu welken. Ihre kleine Nase würde spitz werden, vogelartig. Ihre seltsamen Augen, schmale schräge Schlitze, an den äußeren Winkeln leicht nach unten gezogen – was bestimmten Menschen einen deprimierten Ausdruck verlieh, bei Jo’ela aber immer auf scharfe Auffassungsgabe und ein wenig Ironie hinwies –, waren jetzt starr. Und die beiden bläulichen Streifen an ihrem langen Hals stachen deutlich hervor. Sie würde zu den Ausgedörrten gehören, zu den Zusammengeschrumpften, ihre Schlankheit würde verschwinden, ihre Schultern nach vorn fallen.
    Jo’ela goß Kaffee ein. »Eine lange, lange Reihe«, rief Ja’ara im Wohnzimmer, immer wieder, mit verschiedenen Betonungen. »Unsere Gesichter entstellt, der Tod blickt uns aus den Augen.«
    »Du läßt sie an so einem Abend, mit Terroranschlägen überall in der Stadt, aus dem Haus gehen?« fragte Hila erschrocken.
    »Sie wird abgeholt, sie muß nicht mit dem Autobus fahren«, beruhigte sie Jo’ela. »Außerdem sind wir uns doch längst einig, daß man die Kinder nicht einschließen kann, so ist das Leben hier, und wir müssen uns damit abfinden.«
    »Wer wird sie abholen?«
    »Nedew und sein Vater.«
    »Gibt es schon einen Nedew?« kicherte Hila.
    »Wir haben ihn noch nicht gesehen, er ist in der elften Klasse. Sein Vater bringt beide hin und holt sie wieder ab.«
    »Was für ein edler Mann, dieser Vater. Und was tut er in der übrigen Zeit?«
    Jo’ela zuckte mit den Schultern. »Wir sind noch nicht dazu gekommen, seinen Vater auseinanderzunehmen«, sagte sie lächelnd.
    Hila hockte sich auf das Sofa, streifte die Sandalen ab und zog die Beine unter sich. Jo’ela setzte sich auf ihren üblichen Platz mitten auf dem Sofa und blickte ihre Kaffeetasse an. Ja’ara las den Text noch einmal vor und fragte sie um ihre Meinung. Dann wiederholte sie die Worte, doch diesmal hielt sie das Heft umgedreht. Zweimal mußte sie hineinschauen, dann, nach einem Blick auf ihre Armbanduhr, rannte sie in ihr Zimmer.
    In diesem Moment wurde draußen der kupferne Klopfer an die Tür geschlagen, gleich danach klingelte es. Hila blickte Jo’ela an, die aufstand, um zu öffnen; auf dem Weg drückte sie auf den Lichtschalter. Als sie wieder hereinkam, folgte ihr ein junger Mann, groß und mager, dessen rote, lockige Haare im Nacken zusammengebunden waren. Er zerrte am Saum seines weißen T-Shirts und stopfte es in die Jeans.
    Draußen, ein paar Schritte von der Tür entfernt im dunklen Garten, war eine Gestalt zu erkennen. »Nedew?« rief eine bekannte Stimme. »Warum dauert es so lang? Ich muß um neun schon wieder …« Noch während er sprach, kam der Mann näher, und Jo’ela blieb fast das Herz stehen.
    »Darf ich bekanntmachen«, sagte Nedew feierlich und verlegen. »Das ist Ja’ara, und das ist ihre Mutter.«
    »Sehr angenehm«, sagte Ja’ara, streckte die Hand aus und blickte Nedews Vater unschuldig an.
    Es war nicht zu ändern.
    »Jo’el«, sagte der Mann lächelnd, und seine grauen Haare, einen Topf auf den Kopf gestülpt und abgeschnitten, wurden von einem plötzlichen Windstoß aufgeweht. Er drückte fest ihre Hand und schüttelte sie. Ja’ara und Nedew gingen vor ihnen. Jo’ela verschränkte die Hände vor der Brust. Ihr Herz klopfte wie wild. »Du hast gewußt, daß ich hier wohne«, warf sie ihm vor.
    »Sagen wir mal, ich habe es vergessen«, antwortete er spöttisch. »Das sind die Wunder des menschlichen Gehirns, ich bin so versunken … Ich war so in

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