So habe ich es mir nicht vorgestellt
verschwommene Gestalt eines Mannes, aber sie verschwand, während sie sich erschrocken aufsetzte, als ihr die Fahrt in den Süden einfiel. Als sie an das junge Mädchen dachte und auch, mit einer mit Reue gemischten Erregung, an die Verabredung mit Jo’el. Scham ergriff sie, als sie sich daran erinnerte, wie sie mit einer Art jubelnder Sicherheit »Papageno« gesagt hatte. Mit beiden Händen drückte sie sich das Kopfkissen ans Gesicht und schloß die Augen.
Die kleinen Vögel stießen unaufhörlich ihre kurzen, spitzen Schreie aus und hörten auch nicht damit auf, als Jo’ela durch das offene Fenster mit dem halb heruntergelassenen Rolladen das Flügelschlagen und das beruhigende Gezwitscher der alten Sperlinge hörte. Schon seit Jahren nisteten sie im Rolladenkasten, und alle Versuche, die Höhlung von Federn, Schmutz, trockenen Blättern und Reisig zu befreien und überhaupt alles zu entfernen, was das Gefühl territorialen Anspruchs in ihnen wecken könnte, waren mißlungen. Jedes Jahr im Frühling saß ein Sperlingspaar auf dem Fensterbrett – vielleicht wurden gute Nistplätze in der Welt der Sperlinge weitergegeben, von Generation zu Generation –, und dann füllte sich der dunkle Hohlraum des Rolladenkastens vor dem Schlafzimmerfenster wieder mit Gräsern und ähnlichem, und wenn Jo’ela das fröhliche Zwitschern hörte, mit dem die Vögel, die sie eigentlich zu vertreiben vorgehabt hatte, ihren Nestbau begleiteten, war es immer schon zu spät. Sie schaffte es nicht, die brütende Vogelmutter von ihren Eiern zu jagen, und deshalb ignorierte sie sie jedes Jahr, bis eines Tages – es war immer eine große Überraschung – das Geschrei der Kleinen zu hören war und sie lange Zeit in aller Frühe weckte, beim ersten Morgengrauen, und nicht wieder einschlafen ließ. Einmal hatte Arnon eine Lehmfigur in den Rolladenkasten gelegt, weil das angeblich die einzige Möglichkeit sei, die Vögel zu vertreiben, aber nach der Zeit des Nestbaus, nachdem die Jungen wieder geschrien hatten, bis sie groß genug geworden waren, um wegzufliegen, hatte sich herausgestellt, daß die Sperlinge die Lehmfigur einfach in ihren Nestbau einbezogen und sie mit Reisig und Staubflocken gepolstert hatten. Arnon hatte die Figur wütend in den Mülleimer geworfen, als nehme er ihr übel, als Vogelscheuche versagt zu haben.
Erst klingelte der Wecker, dann das Telefon.
»Nun, was sagst du?« fragte ihre Mutter.
»Zu was?«
»Zu den Nachrichten«, sagte sie zornig. »Schreckliche Nachrichten.« Sie seufzte.
»Was soll ich sagen? Wirklich schreckliche Nachrichten«, stimmte Jo’ela zu. Ihre Mutter meinte den Zwischenfall im Südlibanon, bei dem drei israelische Soldaten getötet worden waren.
»Gut, daß du zwei Töchter hast, und bis Ja’ir soweit ist, unberufen …«, sie stotterte, »… dann wird es vielleicht schon nicht mehr nötig sein …« Schon während des Redens merkte sie wohl, wie fragwürdig ihr »nicht mehr nötig sein« wirklich war, deshalb fuhr sie vorwurfsvoll fort: »Also sag mir, wie ist das, daß man nicht weiß … Noch dazu mitten am Tag, noch nicht mal während der Dunkelheit, kann man so etwas erklären?«
»Nein, kann man nicht«, stimmte Jo’ela zu. »Es gibt keine Erklärung.«
Man habe schon einen Untersuchungsausschuß einberufen, sprach ihre Mutter bereits weiter, offenbar in der Hoffnung, man könne zu neuen Erkenntnissen gelangen, die den Vorfall doch noch erklären könnten, und schließlich verkündete sie wütend: »Als ob sie das wieder lebendig machen könnte!« Plötzlich fügte sie erschrocken hinzu: »Habe ich dich geweckt?«
»Nein«, sagte Jo’ela und hörte ihre Mutter hüsteln und seufzen.
»Ich wollte mit dir reden …«, sagte sie zögernd und unentschieden, »jedenfalls, ich meine, man muß an den Jahrestag denken.«
»An den Jahrestag?« fragte Jo’ela. »Jetzt? Auf der Stelle?«
»Nun, wann denn sonst?« antwortete ihre Mutter. »Schließlich ist er morgen, in Beit Ajar. Im letzten Jahr haben wir es am Gedenktag gemacht, und es war in Ordnung. Ich habe gedacht, daß vielleicht auch dieses Jahr …«
»Auf gar keinen Fall!« rief Jo’ela, wagte aber nicht zu sagen, was sie wirklich beschlossen hatte.
»Ich habe gedacht«, fuhr ihre Mutter fort, als habe sie nicht gehört, was Jo’ela gesagt hatte, »daß wir dieses Jahr nicht auf einen Chasan verzichten. Schließlich ist es unmöglich, ohne ein bißchen … ein bißchen … Wer wird sonst den Kaddisch sagen? Es sei
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