So habe ich es mir nicht vorgestellt
Erscheinung schon wieder in Luft aufgelöst – und im selben Augenblick auch ihre Sicherheit. Dagegen sah sie sich selbst, ganz realistisch, wie sie das Mädchen berührte und eine Botschaft weitergab, die knochigen Schultern unter der Flanellbluse, und wurde von der unerschütterlichen Erkenntnis getroffen, daß diese Berührung nicht möglich war. Das alles würde nicht passieren, es verband sie nichts mit dem fremden Mädchen. »Ich habe sie nie sprechen gehört«, sagte sie leise zu Hila. »Ich weiß noch nicht einmal, wie sich ihre Stimme anhört, ob sie hoch oder tief ist, klar oder heiser.«
»Nun«, sagte Hila, »das ist die Wurzel der ganzen Sache. Sie hat sich in deiner Phantasie eingenistet. Ein Dybbuk. Wenn du sie wiedersiehst, wird der Dybbuk verschwinden.«
»Wie?« fragte Jo’ela flehend. »Was heißt das?«
Hila schloß kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war alle Fröhlichkeit daraus verschwunden. »Jo’ela, du siehst sie vielleicht so, wie du gerne wärest oder glaubst, daß du gerne wärest, oder … eine Art Ziel deiner verlorenen Wünsche, aber in Wirklichkeit ist sie einfach nur ein Mensch wie alle anderen. Wenn du mit ihr alleine sprichst, wirst du es selbst merken, das kann nicht anders sein, und dann wirst du sie in Ruhe lassen, dann kannst du auf sie verzichten und auch wieder essen.«
»Du redest wie diese Frau mit dem Mais«, sagte Jo’ela zornig, aber ihre Stimme hatte ihre alte Sicherheit verloren. »Was heißt das, sie repräsentiert etwas?« Sie legte ihre Hand gebieterisch auf die Leinentasche, in der Hila wieder einmal zu wühlen begann, und bat um die Rechnung, betrachtete sie, legte einen Hundertschekelschein auf den Tisch und nickte, als Hila, die neben dem Mann stand und über seine Schulter hinweg zur Küche hinüberschaute, noch einmal das Essen lobte. Dann machte sie die Tür auf.
Auf dem Weg zum Auto sagte Hila: »Dafür müßten wir ins Detail gehen. Über deine Sexualität sprechen, über die du gar nicht gerne redest, und über dein Verlangen, nichts zu wollen, was mit dem Körper zu tun hat, kurz gesagt: über Scham.«
Unter ihren Schuhen knirschte der Sand auf dem Bürgersteig. Neben dem Auto blieb Hila stehen, blickte sich suchend um, wühlte in ihrer Handtasche und sagte schließlich: »Hast du eine Telefonmünze? Ich möchte nur ganz schnell telefonieren.« Sie sprach hastig, wie jemand, der Fragen und Erklärungen vermeiden möchte, und rannte dann durch eine Sandwolke hinüber zu einer Telefonzelle. Es dauerte nicht lange, bis sie wiederkam, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, und als sie sich ins Auto setzte, sagte sie zerstreut: »Er ist schon nicht mehr da.«
»Vielleicht später«, meinte Jo’ela tröstend.
»Nein, für heute ist es schon aus, und er weiß gar nicht, wo ich bin.«
»Das schadet ihm nichts«, sagte Jo’ela, »wenn er auch mal was nicht weiß.« Sie drehte sich um, bevor sie aus der Parklücke fuhr. Auf der Straße war kein Auto zu sehen, und an den Häusern links und rechts waren die Rolläden heruntergelassen. Es spielten auch keine Kinder auf dem Gehweg.
»Jetzt ist es ein halber Kilometer, und da ist ja auch das Schild. Wege beschreiben kann sie jedenfalls.«
Am vierten Haus fuhr sie langsamer, vorbei an dem großen Schild, »Rabbiner Nechoschta’i«, schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund, und hielt zwei Häuser weiter an. »Ich bleibe hier«, verkündete Hila und streckte die Füße aus, bis sie an die graue Verkleidung stießen.
Das Schild hing an einem kleinen Tor, das aus einem wackligen Holzrahmen mit eingerissenem Metallgitter bestand. Rechts und links davon erstreckte sich ein großer Garten, und vor dem kleinen Haus standen einige Obstbäume. Ein Pflaumenbaum, ein abgeernteter Zitronenbaum, und neben dem Tor blühte ein wilder Apfelbaum, dessen weißrosige Blüten in ein paar Tagen abfallen würden, damit die säuerlichen Früchte wachsen konnten. Der grüne, frische Rasen wirkte gegen die gelbe, dunstige Luft wie gemalt, aber hier sah man keinen Sand. Einen Moment stand Jo’ela reglos da, bis sie lautes, klares Gelächter vom anderen Ende des Gartens hörte. Das Lachen brachte die Entscheidung. Sie ging durch den Garten auf das Lachen zu. Ein paar Schritte vor einem Planschbecken aus Plastik blieb sie stehen. Auf einer Betonfläche neben dem Becken kniete das Mädchen, einen Wasserschlauch in der Hand, mit dem sie in das Becken spritzte.
Unter dem bekannten blauen Rock, den sie um die Knie
Weitere Kostenlose Bücher