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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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waren am Himmel bereits die ersten Farbschattierungen des Sonnenuntergangs zu sehen. Ein dunkler Dunst hing über den fernen Bergkuppen. Margaliot drehte sich in seinem Stuhl, zog ein weißes, gebügeltes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Nase. »Und was passiert jetzt, in den letzten Tagen?« sagte er, faltete langsam das Taschentuch wieder zusammen und glättete es zwischen seinen langen, weißen Fingern. »Ich sehe Ihre Augen glänzen wie im Fieber, ich kenne das. Ich habe gehört, wie Sie mit dem Rabbiner sprachen, wie Sie die Laborantin anschrien, ich merke schon, wie Sie über alle möglichen Wege nachdenken, an die Familie heranzukommen, Sie suchen ja fast schon einen Beruf für das Mädchen aus. Es wird zu Hausbesuchen führen. Ich warne Sie, passen Sie gut auf, daß Sie sich nur wegen eines Mädchens, das einmal da war und wieder gegangen ist, die Zusammenarbeit mit diesen Leuten nicht verderben. Glauben Sie mir, die Welt ist voll mit solchen Mädchen. Auch bei uns im Flur, es gibt nicht nur diese eine. Es gibt auch andere. Das wissen Sie doch. Und Ihr Engagement beweist nicht, daß Sie eine gute Ärztin sind, sondern nur, daß Sie die Grenzen nicht mehr kennen. Das wird zu nichts Gutem führen. In dem Moment, wo wir aus der Klinik hinausgehen und uns ins richtige Leben einmischen, zeigt sich nur, was in unserem Inneren geschieht, es hat nichts mit unserer Qualität als Arzt zu tun.« Und dann erklärte er plötzlich: »Ende der Vorlesung.« Er lächelte. »Also, was haben Sie mit diesem Mädchen, Doktor Goldschmidt?« Er hatte umgeschaltet auf den bekannten ironischen Tonfall, mit dem tschechischen r , das sich fast wie l anhörte und die Ironie milderte.
    Das ermöglichte ihr zu sagen: »Ich weiß nicht, aber sie läßt mich nicht los, und seit vorgestern habe ich Kopfschmerzen. Sagen Sie mir, an welchem Fall Sie festhängen, und ich sage Ihnen, wer Sie sind. War es das, was Sie mir sagen wollten?«
    »So ungefähr«, sagte Margaliot, »so könnte man es ausdrücken.« Seine Stimme klang müde, als habe er jedes Interesse verloren. Er richtete sich auf. »Außerdem wollte ich Sie über meine Pläne informieren. So etwas muß man langsam aufbauen, Jo’ela, und Sie haben sich noch nicht mal gefreut.«
    »Ich werde darüber nachdenken«, versprach Jo’ela. »Ich werde über das, was Sie gesagt haben, nachdenken.«
    »Gut. Aber wir sind nicht in einem amerikanischen Film, hören Sie auf, sich zu überlegen, wie Sie meinen Beifall bekommen können. Es geht mir um Ihre Person.«
     
    Wenn man das Krankenhaus bei Sonnenuntergang verließ, konnte man noch das rotgoldene Licht sehen, und an der Art, wie die blassen Schatten auf die lila gesprenkelten Schwertlilien unterhalb des Marmorgeländers fielen, stellte man fest, daß die Tage länger wurden. Wenn sie in der Klinik geblieben wäre und starrsinnig auf die Labortechnikerin gewartet hätte, wäre nichts geschehen. Wenn. Erst im nachhinein konnte sie den Finger auf die Stelle legen und sagen, daß alles nur deshalb passiert war, weil sie vorzeitig die Arbeit verlassen hatte. Wenn man früher wegging, konnte man noch sehen, wie sich die Sonnenstrahlen in den großen, verstaubten Fenstern im Flur brachen. Und man sah auch die graublauen Hügel in der Ferne, sogar den Hirten mit seiner Schafherde vor den niedrigen Häusern des Dorfes, weit weg von der goldenen Kuppel. Wer sich erlaubte, früh wegzugehen, konnte auch die vielen Menschen sehen, die familienweise oder allein während der Besuchszeit in die Klinik eilten oder sie verließen. Zu dieser Zeit konnte man die Gesunden sehen. Neben dem Empfang, in der Eingangshalle, saß eine große Gruppe um eine dünne Frau, unter deren rosafarbenem Morgenmantel ein blauer Herrenpyjama hervorschaute, neben ihr eine junge Frau, ihre Schwester oder ihre Tochter, angespannt und besorgt, und zwei andere Frauen, die gleichgültig und gelangweilt zur Seite blickten, außerdem ein älterer Mann, der mit einem siegessicheren Ausdruck im Gesicht eine Zeitung zu einem Papierschiff faltete, einfach zum Spaß, während ihm ein kleiner Junge zusah. Manche Patienten saßen auch allein da, die Hände am schlaffen Gummizug des Pyjamas, die Füße in Hausschuhen, wie zum Beispiel dieser ältere Mann im Flur, neben dem Eingang zur Cafeteria. In der Empfangskabine drehte die Angestellte hartnäckig am Knopf des Radios und trällerte freudlos mit der rauchigen Stimme der Sängerin mit: »Ich fand jemanden, der mir

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