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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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guttun wird.«
    Als Jo’ela sich dem Wachmann am Eingang nä-herte, den sie wegen seines kahlen Kopfes und des gezwirbelten Schnurrbarts Kaukasier nannte, hörte sie eine alte, bekannte Stimme. Sogar die Wörter wa-ren ihr geläufig. Ihr Puls ging schneller, als sie Jossi Jadins Stimme erkannte. »Und so stehen die Dinge. Auf einem hohen Ast saß ein Vogel …« Der Kaukasier drehte das Radio leiser und lächelte ihr zu, so daß die Zahnlücken in seinem Unterkiefer zu sehen waren, und sagte entschuldigend: »Die Leute vom Musiksender sind ganz verrückt geworden, sie wissen schon nicht mehr, was sie bringen sollen. Sind wir kleine Kinder oder was? So geht das schon seit zwei Wochen. Fünf Minuten vor Schluß einer Sendung spielen sie jeden Tag zehnmal einen der ›Slawischen Tänze‹ von Dvořák. Immer denselben und immer dieselbe Aufnahme.« Der Kaukasier war überzeugt, Jo’ela sei Musikliebhaberin, nur weil sie vor ein paar Jahren einmal einen eher ge-langweilten Blick auf das kleine Radiogerät vor ihm auf der Theke geworfen hatte, aus dem eine unbekannte liturgische Musik geklungen hatte. »Der 149. Psalm von Mendelssohn«, hatte er damals gesagt, und ihr Schweigen hatte ihn dazu ermutigt, ihr vom Quiz und den Fernsehsendungen am Schabbat zu erzählen. Nie stellte er eine direkte Frage. Jetzt fuhr er fort: »Also ich sage, sollen sie doch dafür sorgen, daß ihre Programme zum richtigen Zeitpunkt aufhören, oder sie sollen was anderes bringen. Aber so?« Sein anhaltendes Interesse an ihrer Person hatte sie anfangs amüsiert. Und dadurch, daß er aufstand, wenn sie vorbeiging, daß er sich aufrichtete, sich bemühte, verursachte er ihr Schuldgefühle und zwang sie, stehenzubleiben und ihm zuzuhören. Doch im Lauf der Zeit hatte sie bemerkt, daß sie nicht die einzige war. Es bereitete ihr ein gewisses Unbehagen, daß er sich nur mit Ärzten – mit Leuten, die weniger als Ärzte waren, mit Schwestern, Laborangestellten und Röntgentechnikern, gab er sich nicht ab – über die Radiomusik unterhielt. Es waren eigentlich keine wirklichen Gespräche. Normalerweise war er es, der sprach, erklärte, ungeheuer stolz darauf, sich von seinen Kollegen zu unterscheiden – die anderen Wachleute hörten andere Musik, wenn’s hoch kam, Nachrichten, und er wußte auch, daß er zur Folklore der Klinik beitrug. Manchmal war Jo’ela verwirrt wegen der prahlerischen Anhänglichkeit, mit der er zum Beispiel die Variationen über ein Rokokothema von Tschaikowsky trällerte. Schon oft hatte sie ihn im Verdacht gehabt, daß er absichtlich lauter mitsang, wenn ein Arzt an ihm vorbeiging.
    Jossi Jadin sprach weiter, doch der Kaukasier zuckte mit den Schultern und bot ihr aus einer Blechschachtel, die er aus der Schublade holte, ein grünes Pfefferminzbonbon an, wobei er sie fragte, ob sie gestern die Callas in Carmen gehört habe. Jo’ela nickte, und er war hochzufrieden. »Die Callas hat nie die Carmen in der Oper gesungen«, flüsterte er diskret, als handle es sich um eine kranke Familienangehörige, »wegen ihrer Knöchel, weil sie nie zufrieden war mit ihren Fesseln, auch als sie abgenommen hatte. Nur ein einziges Mal hat sie die ganze Oper gesungen, vierundsechzig, die Aufnahme, die sie gestern gebracht haben. Eine konzertante Aufnahme, ihre beste.« Seine Augen glänzten. »Man bekommt eine Gänsehaut davon. Schauen Sie, Frau Doktor, ich brauche nur daran zu denken, schon bekomme ich eine Gänsehaut auf dem Arm.« Er streckte einen glatten, kräftigen Arm vor.
    Das wäre der richtige Moment gewesen, ihm eine persönliche Frage zu stellen, zum Beispiel, was er die ganzen Jahre hier getan hatte. Doch statt dessen sagte sie nur: »Das ist wirklich eine schreckliche Geschichte, diese Carmen.«
    Das Gesicht des Wachmanns strahlte. »Und auch das Leben der Callas, was für eine Tragödie! Was für eine Tragödie!« Als sie nicht reagierte, fragte er: »Finden Sie nicht auch, Frau Doktor?« Immer sprach er sie mit ihrem Titel an.
    Jo’ela nickte und lächelte ihm zu. Hila hätte sich schon längst auf ihn eingelassen. Sie hätte bereits alles Wissenswerte über ihn herausgefunden. Während sie, Jo’ela, sich nach all den Malen, die er sie angesprochen hatte, noch immer verhielt, als wäre es das erste Mal. Nichts wußte sie über ihn. Auch nichts über die beiden alten Schwestern. Oder über das junge Mädchen. Ebensowenig wie über die Hebamme mit den Narben im Gesicht, die in der letzten Nacht Dienst gehabt hatte und von

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