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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Geduld« und »Es ist wirklich sehr schwer«. Eine zweite ältere Frau stürzte aus dem Wartezimmer und versperrte ihr den Weg. »Ich möchte es auch hören, Frau Doktor«, sagte sie, schneuzte sich geräuschvoll in ein Papiertaschentuch, zog sich mit energischem Ruck einen hinuntergerutschten Wollstrumpf hoch, nachdem sie eine große, getigerte Tasche, deren goldene Schnalle herunterhing wie der gebrochene Flügel eines Huhns, zwischen ihren Beinen abgestellt hatte. Zwischen den beiden Frauen hing an einem Haken, flatternd im Luftzug, ein gelber Kittel, wie sie Ehemännern gegeben wurden, die ihre Frauen in den Kreißsaal begleiteten. Wie Wachtposten standen die beiden Frauen im Flur, zu beiden Seiten der Tür, die Körper gespannt und bereit, ihr zu folgen, sobald sich die Tür öffnete. Jo’ela nahm beide am Arm, schob sie mit sanfter Entschlossenheit ins Wartezimmer zurück, deutete auf die orangefarbenen Stühle und betonte, sie sollten ihre Kräfte für später aufheben, »wenn alles vorbei ist und die junge Mutter Sie braucht«. Ihre Gesichter drückten einen gewissen Zweifel an dem Lohn aus, der sie erwartete.
    Jo’ela betrachtete die anderen Frauen, die in dem kleinen Zimmer saßen. »Die Leute von der Klinik können doch nichts dafür«, mischte sich eine Frau aus der Mitte des Zimmers ein, in einem Ton, als habe sie das schon mehrmals in dieser Nacht beteuert. »Man muß sie in Ruhe ihre Arbeit machen lassen, das ist das Wichtigste.« Sie stand auf und legte sorgfältig die Schalen einer Mandarine in einen der beiden zylinderförmigen Metallbehälter, die neben ihr standen, bevor sie den beiden Frauen etwas von der Mandarine anbot, die sie vorsichtig verteilte; sie hatte fleischige Finger mit schwarzen Fingernägeln. Sie bot auch Jo’ela ein Stück an, die jedoch dankend ablehnte. Sie beobachtete, wie ein großes Stück Schale oben auf dem Berg aus Orangenschalen, Plastiktüten, Resten von Fladenbrot, zusammengedrückten Zigarettenschachteln und Getränkedosen schwankte und auf den Linoleumboden zu fallen drohte. Eine Frau, deren Bauch sich nach vorn wölbte, allerdings nicht wegen einer Schwangerschaft, richtete sich nun auf. »Frau Doktor«, sagte sie, »hat meine Tochter ihr Kind noch nicht bekommen?«
    »Man wird Sie rufen«, versprach Jo’ela, »man wird Ihnen sofort Bescheid sagen, wenn das Kind da ist. Sie müssen Geduld haben.«
    »Das fällt mir schwer«, bekannte die Frau verlegen. »Mir kommt es immer so vor, als höre ich sie schreien.«
    »Und Sie? Haben Sie nicht geschrien, als Sie Ihre Tochter auf die Welt gebracht haben?«
    »Ich?« Die Frau lächelte ein kindliches Lächeln und legte sich die Hände auf den Bauch. »Oho! Und wie ich geschrien habe! Zwölf Stunden mußte ich warten, bis sie endlich bereit war rauszukommen. Es ist ihr gut gegangen da drin.« Die Frau lachte.
    »Bei mir«, mischte sich die Frau mit der Mandarine ein, »war es anders. Ich habe bei der ersten Geburt kaum den Kreißsaal erreicht, da war der Kopf schon draußen.«
    Das Gesicht der Schwiegermutter mit dem Goldzahn glänzte. »Die ersten Geburten sind meist am schwersten, das ist ja bekannt«, bemerkte sie.
    Ein junger bärtiger Mann in der Reihe gegenüber zog seinen schwarzen Mantel zusammen und rückte seinen Hut zurecht, bevor er sich über ein Buch beugte und lautlos die Lippen bewegte.
    »Bei mir war der Muttermund schon weit offen, und das Wasser war auch schon abgegangen«, erklärte die Frau und lutschte an einer Mandarinenscheibe.
    Alle Stühle im Wartesaal waren orangefarben, nur einer, in der Ecke neben dem geschlossenen Fenster, war schwarz. Darauf saß eine junge Frau mit einem runden, blassen Gesicht, das irgendwie nackt wirkte unter den sehr kurz geschnittenen hellen Haaren. In ihren weiten, dünnen Stoffhosen, die Hände über dem dicken Bauch gefaltet, sah sie sehr jung aus, wie ein Mädchen. Ihr Kopf mit den geschlossenen Augen lehnte an den violetten und blauen Streifen des Vorhangs.
    »Warum machen Sie nicht ein bißchen auf, man bekommt ja keine Luft hier«, sagte Jo’ela, atmete tief die dumpfe, nach verschimmeltem Abfall riechende Luft ein und versuchte, den Vorhang aufzuziehen, der den Blick auf die Landschaft versperrte – bei Nacht bestand sie nur aus einigen Lichtern aus der neuen jüdischen Siedlung neben einem arabischen Dorf, das wie ein dunkler Fleck zwischen den Bergen lag. Die Wartenden antworteten nicht auf ihre Frage.
    »An alles erinnere ich mich. Achtundzwanzig Jahre, und

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