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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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ihr ein einziger Tropfen auf das Gesicht fiel.
    »Vielleicht warten wir noch ein bißchen mit dem Wehenmittel«, überlegte Jo’ela. »Vielleicht sprengen wir die Fruchtblase, das beschleunigt den Geburtsverlauf ebenfalls.«
    Herr Mu’alem ließ den Papierstreifen los, den das Gerät fortwährend ausspuckte, stützte das Kinn in die Hand und fragte, ob das kein unnatürlicher Eingriff sei, der die Infektionsgefahr erhöhen könne.
    Jo’ela rückte die Ableitungsköpfe auf dem Bauch der Frau zurecht, blickte auf den Wehenschreiber und sagte, das sei eine allgemein übliche Vorgehensweise, von möglichen Komplikationen sei nichts bekannt. Nach kurzem Zögern wies sie darauf hin, daß die Schmerzen allerdings etwas stärker werden könnten. Frau Mu’alem nickte entschlossen.
    »Muß ich so lange rausgehen?« fragte Herr Mu’alem und zog den Papierstreifen zu sich.
    »Wie Sie wollen, mich stören Sie nicht«, murmelte Jo’ela und hob das Laken hoch, Frau Mu’alem winkelte die Beine an.
    »Wird es weh tun?« fragte sie mit einer ganz kleinen Stimme.
    »Nur ein kleiner Stich, das ist alles«, versprach Jo’ela.
    Herr Mu’alems hervorstehende Augen öffneten sich weit, und er zupfte nervös an seinem Schnurrbart, als er den langen, zugespitzten Holzspatel sah, mit dem Jo’ela nun mit einer einzigen Bewegung die Fruchtblase einritzte. Unter dem weißen Laken drückte Frau Mu’alem die Knie fest aneinander, und während der Wehe, die der Kardiotokograph aufzeichnete – »Neunzig«, verkündete Herr Mu’alem mit sichtbarem Stolz –, zog sie das Laken fester um sich und stopfte die Ränder unter ihren Körper fest, als dürfe keine Handbreit ihrer Schenkel sichtbar bleiben. Jo’ela betrachtete die Patientenakte, auf der das Datum der letzten Menstruation angegeben war. Einen Moment lang glaubte sie, sich verrechnet zu haben. Sie zählte noch einmal nach und vergewisserte sich, daß es wirklich die siebenunddreißigste Woche war. Herr Mu’alem, ein bekannter Anwalt für Immobilienangelegenheiten, hatte immer darauf geachtet, bei allen Vorsorgeuntersuchungen dabeizusein. Im achten Schwangerschaftsmonat hatte Frau Mu’alem Jo’ela gefragt, ob sie bereit sei, die Geburt zu übernehmen. Ihr Mann hatte vorgeschlagen, schriftlich festzuhalten, daß seiner Frau eine natürliche Geburt ermöglicht werde, es sei denn, es ergebe sich ein ernsthafter Grund für eine Operation.
    Im Untersuchungszimmer, hinter ihrem Schreibtisch, noch während Frau Mu’alem sich anzog, hatte Jo’ela damals ihren weißen Kittel glattgestrichen und trocken gesagt: »Wir haben sehr gute Ärzte, die ich Ihnen aufrichtig empfehlen kann, falls Sie irgendwelche Zweifel haben.«
    Herr Mu’alem, mit einer schnellen Bewegung zu seinem kurzen Schnurrbart, murmelte etwas Unverständliches und breitete die Hände aus, als wolle er sich ergeben.
    Aber Jo’ela ließ nicht locker. Frau Mu’alem hatte sie ausgesucht, weil sie eine Frau war, das spürte sie, während der Mann ihr aus dem gleichen Grund nicht traute. »Entweder vertrauen Sie auf meine Urteilskraft und meine Erfahrung«, fügte Jo’ela mit einer für sie ungewöhnlichen Bitterkeit hinzu, »oder Sie wenden sich an einen anderen Arzt.«
    Herr Mu’alem machte zwar den Mund auf, aber in diesem Augenblick sagte seine Frau, die auf dem Stuhl neben ihm saß und gerade den obersten Knopf ihres Mantels zuknöpfte, die Augen noch zum Knopfloch gesenkt: »Tu mir einen Gefallen, Mosche, hör auf.«
    »Ich habe doch nur gemeint, daß … So habe ich es nicht gemeint«, murmelte Herr Mu’alem und strich sich mit den Händen über die Oberschenkel, während seine Frau Jo’ela zuschaute, die im Kalender blätterte, um den Termin für die nächste Untersuchung festzulegen, Mitte des neunten Monats, ein Besuch, zu dem es nun nicht mehr gekommen war.
    »Jetzt warten wir erst einmal ab«, sagte Jo’ela, mit beiden Händen die Schüssel mit dem Fruchtwasser festhaltend, »was das bringt.« Und beruhigend: »Die Farbe des Fruchtwassers ist in Ordnung.«
    »Aber da ist ein bißchen Blut dabei«, widersprach Herr Mu’alem.
    »Das ist normal, kein Grund zur Sorge«, entschied Jo’ela und trug die Schüssel zum Waschbecken neben der Tür.
    Herr Mu’alem wandte sich wieder der Nadel zu, die langsam die Papierstreifen aus dem Herztonwehenschreiber vollkritzelte, doch zugleich verfolgte er jede Bewegung Jo’elas, bis sie das Zimmer verließ.
    Alle Betten im Vorwehenzimmer, durch Wandschirme voneinander

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