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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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kicherte. »Das ganze Jahr über hat sie nichts gesagt. Aber sie hatte ein Heft, sie war zu jeder Vorlesung da und hat mitgeschrieben. Sie war auch die einzige, die bei der Zwischenprüfung hundert Punkte bekommen hat. Ich … ich habe es nicht immer geschafft zu kommen. Die Vorlesung war um zwei Uhr nachmittags. Nach einem Monat ungefähr bat ich sie um das Heft, um abzuschreiben, und bis heute bitte ich sie immer um was, stimmt’s, Jo’ela?« Hila schlug ihr auf den Arm. »Aber das Heft war nur eine Ausrede«, erklärte sie Ja’ara. »Eigentlich wollte ich sie kennenlernen. Sie schien mir etwas ganz Besonderes zu sein. Ich fragte sie, was sie eigentlich studiere. Medizin im zweiten Jahr. Ich hatte damals schon eine kleine Tochter, und deine Mutter hatte deinen Vater gerade kennengelernt, war aber noch weit davon entfernt zu heiraten. Wann genau habt ihr eigentlich geheiratet, Jo’ela?«
    »Ein Jahr später.«
    »Als ich damals ein Gespräch mit ihr anfing, sah ich ihr an, daß sie nicht wußte, wo sie mich einordnen sollte. Sie war sehr schüchtern, deine Mutter. Aber auch neugierig.«
    »Sie ist überhaupt nicht schüchtern«, widersprach Ja’ara. »Sie ist verschlossen, das ist etwas anderes.«
    »Und so ist es geblieben. Ich komme öfter zu ihr als sie zu mir. Bis heute erschrickt sie manchmal über das, was ich sage. Bis heute ist sie eher schüchtern als neugierig. Und bis heute, um es mit einem Satz zu sagen, geht sie einfach drauflos – während ich mich tagelang herumquäle. Alles ist so geblieben, wie es war. Eine Tatsache. Stimmt’s, Jo’ela?«
    »Es waren nicht die Vorlesungen zur Theatergeschichte, sondern es ging um die Stücke von Brecht. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war es die ›Mutter Courage‹.«
    Hila neigte den Kopf spöttisch zur Seite, betrachtete Jo’ela, trank geräuschvoll einen Schluck Kaffee. »Gut, stimmt, Brecht. Aber das ist nicht die Hauptsache.«
    Sie wandte sich wieder an Ja’ara. »Zum Beispiel die Sache mit Arnon.«
    »Sie haben sich an der Bushaltestelle kennengelernt«, sagte Ja’ara amüsiert. »Und was ist daraus geworden? Sie sind seit meiner Geburt nicht mehr Bus gefahren.«
    »So einfach darfst du das nicht sehen«, sagte Hila.
    Ja’ara schaute hinauf zum Himmel, und in diesem Moment sah sie für ihre Mutter aus wie ein Werbefoto für die gesunde israelische Jugend, einen Grasstengel im Mundwinkel, lange, braune Beine, helle, lange Haare, die ihre kleinen Brüste im Bikinioberteil halb verdeckten.
    »Sie fahren vielleicht nicht mit dem Autobus«, sagte Hila in pädagogischem Ton, »aber weißt du, was bei diesem Treffen damals noch passierte?«
    »Klar«, meinte Ja’ara, »er hat ihr eine Zeitung gekauft.«
    »Und davor?«
    Ja’ara lachte und imitierte den Tonfall ihres Vaters. »Vorher hat er zu ihr gesagt: ›Hier haben Sie zwanzig Agurot, kaufen Sie sich eine Zeitung, wenn Sie so dringend eine lesen wollen‹« Sie grinste. »Bis heute kann er es nicht leiden, wenn man in seine Zeitung schaut.« Sie brach in Gelächter aus, ebenso wie Hila.
    Ein Schatten zog über Jo’elas Gesicht und störte ihr Gelächter. Ein Schatten von Wut auf diese Zeit, die schon über zwanzig Jahre zurücklag. »Er hatte Zahnschmerzen«, sagte sie laut, weil sie das Lachen nicht mehr ertrug.
    »Wenn er keine Zahnschmerzen gehabt hätte, hättet ihr euch nicht kennengelernt«, meinte Hila, bevor sie anfing zu diskutieren, ob sie sich vielleicht auf alle Fälle getroffen hätten, ob die Ereignisse eine Frage des Glücks, der Verkettung zufälliger Umstände oder historische Notwendigkeit seien, wie Ja’ara es ausdrückte.
    Das läßt sich auch auf diesen Mann übertragen, dachte Jo’ela. Bedeutete das etwa, daß sie jedesmal, wenn sie dieses neugierige, lebenshungrige Aufblitzen in seinen Augen sah, nicht wußte, was sie wollte, daß sie es nie wissen würde, daß sie warten würde, wie jetzt, daß er anrief?
    Sie sollte alles vergessen.

4. Geburt
     
    Hila hatte schon oft gesagt, daß man gleich beim Eintritt in die Ambulanz, schon an der Tür, die völlige Bedeutungslosigkeit der Zeit erkennen könne. Tag und Nacht brannten dort Neonlampen, wurden lange Computerstreifen gedruckt, beugten sich stündlich und minütlich gesunde Menschen über Kranke, neigten die Köpfe zur Seite, um besser zu hören, bewegten mit sicheren Händen Spritzen, Messer, Skalpelle und reichten bunte Tabletten und kleine Plastikgläser mit Wasser, damit die Kranken die Tabletten auch schlucken

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