So habe ich es mir nicht vorgestellt
konnten. Aber nur bei oberflächlicher Betrachtung konnte man, poetisch, wie Hila es mochte, von einer scharfen Trennung zwischen schlafender Zeit und schlafloser Zeitlosigkeit sprechen. Die Gesetze der Zeit verloren im Krankenhaus keineswegs ihre Bedeutung, und draußen, in den dunklen Häusern und den leeren Straßen, schliefen auch nicht alle. In jedem Haus gab es wohl mindestens einen, der nicht einschlafen konnte. Und in der Klinik fand man auf jeder Station Menschen, die trotz der brennenden Neonlampen im Flur schliefen. Und wenn Schwestern einen frisch Operierten in ein Zimmer fuhren, wenn sie mit den Infusionsgeräten neben seinem Bett hantierten, seinen Blutdruck maßen, mit der Pfanne kamen, häufig ein- und ausgingen, so gab es in diesem Zimmer immer jemanden, der seelenruhig schlief, taub gegen Bitten und Seufzen. Tag und Nacht waren auch hier keine zusammengehörigen Einheiten, die sich lediglich durch die Art der Beleuchtung und die Zahl der anwesenden Ärzte unterschieden. Die Unterschiede waren anders. Auch im Krankenhaus kamen, wie überall auf der Welt, nachts die bösen Geister hervorgekrochen, bliesen die Ängste auf, bis nichts anderes mehr Platz hatte. (Woher stammte sonst die weitverbreitete These – die sogar wissenschaftlich nachweisbar war –, daß nachts die Empfindungen stärker sind. Jeder kennt das Phänomen, daß Schmerzen, die tagsüber fast verschwunden sind, bei Nacht wieder zunehmen. Neugeborene Babys, die noch nichts von Tageszeiten und anderen Gesetzen der Zeit wissen, fiebern, wenn sie erkranken, nachts.) Wegen der Beziehung zwischen Dunkelheit und Angst erwachen nachts Gier und Gehetztheit, die bei Sonnenlicht wieder verblassen. Die bösen Geister beziehen ihre Kraft aus der Dunkelheit und der Herrschaft des Mondes. Aber so etwas laut zu sagen war absolut verboten. Man durfte der Gebärenden nur versprechen, daß am Morgen alles anders aussehen würde.
Die Neonlampen – auf dem Weg zum Aufzug flimmerte eine defekte – hatten, anders als die Sonne, keinerlei Wirkung auf die bösen Geister. Wenn er anrief, könnte sie sich einfach den Umschlag von ihm geben lassen und ihn nie wiedersehen. Denn jemand, dessen Bewußtsein ganz und gar auf Sehnsucht und die Wiederholung eines bestimmten Momentes ausgerichtet ist, wird zum Sklaven des anderen. Außerdem konnte man es nicht wissen; vielleicht begnügte sich der andere mit dem Bewußtsein, Sehnsüchte geweckt zu haben, und brauchte niemanden und keine Wiederholungen. Man durfte es nicht so weit kommen lassen, daß man auf einen Anruf wartete. Sie würde mit Margaliot sprechen, daß er ihm keine Erlaubnis zum Filmen gab.
Wenn man als Fremder die erste Tür zur Geburtshilfe aufmacht, sieht man einen langen Korridor vor sich, man sieht die innere Tür, zwei cremefarbene Holzflügel, bei denen man sogar von weitem die abblätternde Stelle neben der Klinke erkennt. Sie ist immer geschlossen, man muß klingeln und warten, bis eine ungeduldige Hebamme den Summer bedient und einen hereinläßt. Wenn sie ihren Wünschen nachgab, überlegte Jo’ela, würde sie, falls er überhaupt anrief, am Schluß die Hände vors Gesicht schlagen, das sah sie jetzt schon. Es gab Dinge, über die man gar nicht erst nachdenken sollte. Vorstellungen, die man besser wieder sterben ließ. Schon jetzt, während sie versuchte, ihre lauten Schritte auf den Marmorfliesen zu dämpfen, empfand sie keine nennenswerte Freude. Nicht nur wegen des braunen Umschlags. Sie hielt den Atem an, als sie den Mann am Ende des Korridors stehen sah, neben der inneren Tür, und sie trieb sich zur Eile an, obwohl sie jetzt schon erkannte, daß er es nicht war, sondern ein älterer Mann, ziemlich klein und mit einem Schnurrbart.
Mitten im Flur, als sie mit schnellen Schritten am Wartezimmer vorbeilief, griff eine Frau nach ihrem Arm und rief: »Frau Doktor, Frau Doktor!« In der einen Hand trug sie ein kleines, ledergebundenes Buch, die andere hielt Jo’elas Arm. Ein leichter, aber sehr entschiedener Griff. Wie lange es noch dauere, wollte sie wissen, und der Goldzahn, der seitlich aus ihrem Mund blitzte, neben einer schwarzen Lücke, verwandelte die Frage zu einer erpresserischen Forderung. Man halte sie hier fest, ohne Auskunft, während ihre Schwiegertochter schon stundenlang drinnen sei. Man lasse sie nicht hinein, und ihr Sohn, der seiner Frau beistehe, komme nicht heraus. Statt zu sagen, ich wäre jetzt lieber ganz woanders, benutzte Jo’ela Formeln wie: »Da braucht man
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