So habe ich es mir nicht vorgestellt
den Stapel mit den Heften auf die Ecke von Nilis Tisch legt – sie sitzt immer in der linken Tischreihe, auf dem ersten Platz. Das Mädchen selbst sitzt am anderen Ende, in der rechten Tischreihe. Die Lehrerin hebt die Hand an ihren weißen Pullover und sagt, sie möchte über bestimmte Kinder sprechen, die verschnörkelte Buchstaben schreiben. In der Klasse wird es still. Die Lehrerin Siwa schreit nie, und bei ihr stören die Kinder nicht. Nur Moti prescht vor, macht den Mund auf. Er will wissen, was das heißt, verschnörkelte Buchstaben. Die Lehrerin erhebt ihre Stimme, für einen Moment wird sie fast zornig, als sie das L an die Tafel schreibt, das das Mädchen extra mühevoll mit einem gerundeten Schwanz versehen hat, einer angehängten Locke, damit das Heft, das sie neu abgeschrieben hat, schön und sauber aussieht wie der weiße Pullover der Lehrerin, schön wie die geraden Linien, die sie an die Tafel malt, das gerundete L, das G, das unter die Linie geht und das sorgfältig gerundete S. Die Lehrerin schreit fast, als sie das Wort »kokettieren« sagt: Die Buchstaben kokettieren. Es gibt Kinder, die haben eine gefallsüchtige Schrift. In ihrer Stimme liegt Spott, als sie das sagt. Es gibt Kinder, denen reicht es nicht, korrekte Buchstaben zu schreiben, sie müssen prahlen. Sie blickt das Mädchen nicht an, aber das Mädchen weiß, daß die Lehrerin über ihr Heft spricht. Das Heft, auf dessen weißen Umschlag ihr Vater einen großen Orangenbaum und einen Schwärm Vögel gezeichnet hat, obwohl das Bild, wie er meinte, keine Beziehung zur Bibel hat. Aber sie hat auf dem Baum und den Vögeln bestanden, weil sie die Gesetzestafeln, die auf allen anderen Umschlägen waren, nicht mochte. Die Lehrerin spricht über ihr Heft, über die Buchstaben, die sie sorgfältig gemalt hat, über die Antworten, die sie gegeben hat. Und nur die Lehrerin und das Mädchen wissen es. Plötzlich versteht das Mädchen, daß das alles nur wegen des Besuchs ist. Und daß Siwa, die Lehrerin, sie nicht mehr mögen wird. Nie. Sogar wenn die verschnörkelten Buchstaben verschwinden und sie das Heft abschreibt – es ist alles aus, weil die Lehrerin sie nicht mehr mag. Und sie weiß auch, daß das sehr schlimm ist, daß ihr großes Unrecht geschieht. Daß die Lehrerin sie nicht verstanden hat, sondern das Gegenteil annimmt. Aber es ist nicht gut, zu glauben, daß die Lehrerin böse ist. Da glaubt sie lieber, daß sie selbst böse ist. Denn es kann nicht sein – nicht mit dieser Hand am Hals und den dunklen weichen Haaren, die zu einer Bananenfrisur zusammengesteckt sind, nicht mit dem Schönheitsfleck unter den feinen Härchen oben an dem weißen, dünnen Hals –, daß Siwa plötzlich böse geworden ist. Jetzt ruft sie den Namen des Mädchens auf und reicht ihr das Heft, ohne sie anzuschauen. Das Mädchen weint nicht. Sie hält das Heft, auf dessen Umschlag die schöne Zeichnung vom Orangenbaum und dem Vogelschwarm prangt, fest in der Hand und steckt es dann in ihren Ranzen. Am schwersten ist es, die Lehrerin anzuschauen. Es ist unmöglich. Man muß den Kopf senken oder zur Seite schauen, um nicht zu zeigen, wie verletzt man ist. Bis dahin hat das Mädchen an sie geglaubt. Oder glauben wollen. Die Stimme ihrer Lehrerin klingt jetzt anders, neu und weit weg. Bis dahin hat das Mädchen einen solchen Klang nie gehört. Den Klang des Betrugs. Und alles wegen des Besuchs.
Wie oft hat das Mädchen die Lehrerin auf dem Heimweg begleitet und gesehen, wo sie wohnt. Sie hat es genau gewußt. Und wie oft hat sie vor der Tür gestanden und sich nicht getraut zu klingeln, bis sie dann doch Mut gefaßt hat. Dabei hat sie gewußt, daß es verboten ist. Sie hat nicht um Erlaubnis gefragt und zu Hause nichts davon erzählt. Damit ihr niemand sagen konnte, daß es verboten ist, und warum sie das überhaupt wolle. Manchmal war sie schon vorbeigegangen. Schon am ersten Tag hat sie angefangen, über eine andere Beziehung zwischen ihr und der Lehrerin nachzudenken, eine Beziehung, die über die alltägliche hinausgeht. Über ein Geheimnis, von dem die anderen Kinder nichts wüßten. Dann könnte sie alles ertragen, sogar eine ganze Unterrichtsstunde, ohne sich zu beteiligen.
Es gibt Dinge, die von Natur aus verloren sind. Es gibt Dinge, die man besser nicht ausprobiert, denn wenn sie verloren sind, gibt es den Schatz vor dem Einschlafen nicht mehr. Wie oft hat sie vor der Tür gestanden – im zweiten Stock, in der Ha’eschelstraße, an der Tür war nur ein
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