So habe ich es mir nicht vorgestellt
gehen, als könnte sie – genau und gezielt – einen Ball weitergeben. Wenn ihre Lehrerin sie berührte, nicht zufällig, sondern mit Absicht, weil sie es wollte, würde das Wunder geschehen, und das Saubere, Richtige, Strahlende würde auf sie übergehen.
Die Lehrerin steht an der Tafel, in ihrem blauen Glockenrock und einem weißen Pullover, im selben Raum, in dem sie selbst sich befindet. Ihre Hand in dem schwarzen Stoffhandschuh hält die Kreide. Sie bekommt nämlich ein Ekzem von der Kreide. Als sie es den Kindern erzählte, nannte sie es Ausschlag, aber das Mädchen wußte, daß man diese kleinen roten Punkte Ekzem nennt. Auch sie hat einen Ausschlag an den Beinen. Pusteln wegen der Erdbeeren, hat Doktor Kaplan der Mutter erklärt. Die ersten Früchte der Saison. Inzwischen jucken die Pusteln und sehen häßlich aus. Und man darf keine Hosen anziehen, weil die Hosenbeine scheuern – und dann, sagt die Mutter, hast du Löcher statt der Pusteln, wie bei den Windpocken, als du gekratzt hast, und jetzt ist eine Narbe an deinem Kinn geblieben. Sie hat unter den Strümpfen rosa Creme auf den Pusteln, und ihre Lehrerin trägt einen schwarzen Stoffhandschuh, während sie mit runder, schöner Schrift etwas an die Tafel schreibt. Ach, wenn sie doch selbst so eine schöne Handschrift hätte. Die Lehrerin hat unter dem Handschuh eine schöne weiße Hand mit langen Fingernägeln, und diese Hand legt sie sich, ohne Handschuh, an den Hals, bevor sie sie etwas senkt bis zu der Stelle, wo im Ausschnitt ihres Pullovers, an dem ein Perlenknopf glänzt, sehr glatte Haut zu sehen ist. Und dort bleibt die Hand liegen. Wie ein Schmuckstück mit silbernen Steinen – sie malt sich die Fingernägel silbern an. Jeden Sonntag lackiert sie ihre Nägel. Und ihre Stimme ist so weich, wenn sie die Hand an den Hals legt, wie um Kraft für die Frage zu sammeln, was Josefs Brüder wohl gedacht haben.
Und es ist wirklich schwer zu wissen, was sie gedacht haben. Natürlich haben sie gedacht, daß man sie nie im Leben erwischen würde. Daß niemand wissen würde, was sie getan hatten. Jakob, ihr Vater, war sehr alt und zerriß seine Kleider. Er glaubte, sein Sohn Josef sei zerfleischt worden. Ein wildes Tier habe ihn zerrissen. Auch sie hätte das an der Stelle des alten Erzvaters Jakob geglaubt. Die Lehrerin hat ihnen beigebracht, daß sie, die Hand angewinkelt und den Ellenbogen auf dem Tisch, nur den Finger heben sollen, dann sähe sie sie besonders gut. Sie hat gesagt, sie riefe nur die Kinder auf, die sich beherrschen könnten.
Es ist sehr schwer, sich zu beherrschen und daran zu denken, daß man die Antwort nicht hinausschreien darf, auch wenn man sie noch so gern sagen würde. Kein anderes Kind versteht alles so gut wie sie. Und die Lehrerin weiß nicht, daß sie die Fortsetzung der Geschichte bereits kennt. Denn jedesmal, wenn Josef, der Bibliothekar, ihr nichts geben will, bleiben ihr nur das Lesebuch oder die Bibel. Jetzt wird sie den anderen verraten, daß Josef gar nicht gestorben ist. Und wie er dann König werden wird. Aber es ist gar nicht wahr, was die Lehrerin versprochen hat. Daß sie nur die Kinder aufruft, die sich schön melden. Hier, sie tut es nicht. Bestimmt hat sie Gründe, die das Mädchen nicht versteht. Eigene Gründe. Man hat dem Mädchen schon oft erklärt, daß sie nicht alles verstehen könne. Wie wäre es sonst möglich, daß die Lehrerin etwas verspricht und nicht hält? Wie kann man glauben, daß die Lehrerin an sie denkt und sie nicht aufruft? Daß sie es nicht hören will, sondern daß sie ausgerechnet Moti drannimmt, der von seinem Stuhl aufspringt und mit der Hand herumfuchtelt. Was Josefs Brüder gedacht haben, so etwas kann er nicht wissen, und er weiß es wirklich nicht. Jeder kann so etwas Dummes sagen: Sie dachten, sie würden ihn besiegen, und trotzdem sagt die Lehrerin: Sehr schön. Das sagt sie, um ihn zu ermutigen. Die Lehrerin glaubt, sie müsse Moti ermutigen. Das Mädchen muß nicht ermutigt werden. Sie ist schon ermutigt.
Siwa, die Lehrerin, hat noch keine Kinder, es ist noch nicht mal sicher, ob sie einen Mann hat. Jetzt geht sie zu ihrer schwarzen, glänzenden Schultasche aus weichem Leder, die ganz anders aussieht als die harten, braunen Taschen der Kinder, und klappt die beiden Griffe auf, um den Reißverschluß zu öffnen. Sie nimmt einen Stapel Hefte heraus. Heute bekommen sie die Bibelkundehefte zurück. Wie weich ihre Stimme klingt, als sie jetzt da steht, zwischen zwei Reihen, und
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