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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Direktor, der sie an einem Zopf festhielt und sich nach der Mutter erkundigte: Wie geht es deiner Mutter? Und ihr Vater hat einmal gesagt: Schau, wie schön deine Mutter ist. Ein klassisches griechisches Profil. Beide haben am Tisch gesessen und gelacht. Das Mädchen hat nicht verstanden, was das bedeutet. Was ist das, ein Profil, wollte sie fragen, aber inzwischen erzählte er schon wieder von den Zügen in Österreich. Deine Mutter, sagte er und legte die Hand auf den weißen Arm, und sie schämte sich nicht einmal, sie lächelte langsam, und für einen Moment verwischte sich das Blau, deine Mutter hat sich als Griechin verkleidet, und die Leute im Zug haben es nicht gemerkt, und eine Frau hat zur anderen gesagt, auf deutsch: Schau mal, dieses griechische Ehepaar, was für ein klassisches griechisches Profil. Er lachte, und die Mutter lächelte, als gehe es um etwas, was nur sie beide verstanden. Dann hörten sie plötzlich auf zu lachen. Er seufzte, und sie senkte den Kopf. Man konnte nicht einmal etwas fragen. Wenn man nichts versteht, kann man auch nichts fragen. Gar nichts. Warum waren sie in diesem Zug, und wo war sie selbst damals gewesen? Als sie fragte: Hat es mich da schon gegeben?, lachten beide. Was ist so schön an einem griechischen Profil? Und warum mußte die Mutter sich verkleiden? überlegt das Mädchen. Und plötzlich weiß sie, daß die große Dunkelheit, die diese Geschichten begleitet und den blauen Blick dämpft, nichts mit Schönheit zu tun hat, sondern mit Angst. Im Kaffeegeschäft lächelt der Verkäufer die Mutter an. Jede Woche lächelt er wieder, und seine Bewegungen sind aufgeregt und schnell, und etwas an der Art, wie er ihr den gemahlenen Kaffee hinhält, erinnert an das weiße, gebügelte Taschentuch, das der Direktor aus seiner Anzugtasche gezogen hat. Und dann versucht das Mädchen zu verstehen, versucht, das zu sehen, was sie sehen. Sie hebt den Kopf und betrachtet diese Frau, ihre Mutter. Und versucht, dasselbe zu sehen: Meine Mutter ist schön. Sie prüft die Worte, aber das Bild ist nicht richtig. Sie ist nicht schön. In dem Pepitakostüm, mit dem Schal und den schwarzen, hochhackigen Schuhen, mit dem angemalten Mund und dem schmerzhaften Blau verwirrt diese fremde Frau nur. Ihr Gesicht verwischt sich, und sie ist weit weg. Man kann sich nicht mehr an alle Linien auf einmal erinnern. Nur an jedes Detail für sich. Immer wieder sagt sich das Mädchen die Worte vor: Meine Mutter ist schön, aber sie sind nicht wahr. Das ist nicht die Schönheit, die sie möchte. Sie versteht diese Schönheit nicht. Denn im Kaffeegeschäft und im Zimmer des Direktors sieht sie den gelben Kittel, den fleckigen, orangefarbenen Baumwollkittel, wie eine trockene, verschrumpelte Orange, die wirren, sehr schwarzen Haare über der Stirn, auf der Schweißperlen stehen, und sie sieht das schmerzhafte Blau, wie zu Hause. Nur dieses Blau ist unverändert, so wie hinter der Wohnungstür. Sie sagen »Schönheit«. Das Mädchen sieht diese Schönheit nur in den Augen der Leute, die sich nach ihrer Mutter umdrehen. Auf dem Bild, das sie immer von zu Hause nach draußen begleitet, auf dem Weg zur Schule und zurück, zu den Maulbeerbäumen, auf dem Weg zur Bibliothek und zurück, und auch in dem Moment, als das Auto plötzlich hielt, der Fahrer ausstieg und ihr eine Ohrfeige gab – auf diesem Bild steht die Mutter am Spülbecken oder am Bügelbrett. Das Mädchen möchte eine andere Schönheit erreichen, diese bräunlichblasse, saubere, angenehme Schönheit ihrer Lehrerin Siwa. Sie möchte eine wirkliche Schönheit, eine ohne Putzlappen und ohne dieses schmerzhafte Blau. Eine braune, weiche und saubere Schönheit. Eine Schönheit, die zu den Maulbeerbäumen im Hof und zum Strand paßt, zu den weißen, absatzlosen Schuhen einer Tänzerin, eine Schönheit, zu der ein blauer Glockenrock und ein weißer Pullover gehören, eine weiche, sanfte Stimme, die ein gutes Hebräisch spricht, so wie es sich gehört. Eine Schönheit, von der etwas auf einen übergeht, wenn man dicht neben ihr steht und sie berührt. Dann würde man sich auch nicht so schmutzig vorkommen, so gefangen in dem kalten, schmerzhaften Blau. Wenn sie von der angenehmen, weichen Hand Siwas, ihrer Lehrerin, berührt würde, mit einer weichen, barmherzigen Bewegung, würde endlich das Wunder geschehen. Plötzlich würde sie zu einem Mädchen, das dazugehört. Als trüge sie selbst einen Glockenrock, als könnte sie mit so anmutigen, leichten Schritten

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