So habe ich es mir nicht vorgestellt
keine Worte –, bringt sie am Schluß nur einen entschiedenen und zornigen Satz heraus. Hartnäckig wiederholt sie die Worte, die eigentlich nicht zu beweisen sind, die keiner außer ihr begreift und von deren Wahrheit sie selbst nicht mehr überzeugt ist, aber es ist wichtig, sich nicht selbst zu widersprechen, nicht aufzugeben, auf der eigenen Meinung zu beharren, auch wenn er böse wird: Aber meine Lehrerin ist schöner.
Er lächelt und wischt ihr den Schaum von der Nase. Es gibt verschiedene Arten von Schönheit auf der Welt, erklärt er amüsiert. Das kannst du noch nicht wissen. Kinder sehen ihre Eltern so, wie sie sind. Für dich ist deine Mutter nur die Mama.
In ihrem Innern, neben dem Zorn, ganz nahe bei der Kränkung, erwacht bereits das Schuldgefühl. Andere Mädchen – zum Beispiel Judith Albling – sind stolz auf ihre Mütter. Mit absoluter Sicherheit behaupten sie, daß keine Frau schöner wäre. Das Mädchen schweigt.
Abends, vor dem Einschlafen, sollte sie eigentlich an ihre Lehrerin denken. Aber etwas hat ihre Gedanken an Siwa, die Lehrerin, kaputtgemacht. Sie sind zu einer quälenden Last geworden. Nicht nur wegen des Aufsatzes über Bachstelzen, sondern auch wegen jenes Besuchs. Doch schon vor dem Besuch war es schwer, sich auf Siwa und auf die eigenen Gefühle zu konzentrieren. Und nach dem Besuch geht es erst recht nicht mehr. Siwa, die Lehrerin, weiß etwas, und das Mädchen hat keine Ahnung, worum es geht. Etwas über sie, irgend-eine Wahrheit, die Josef, der Bibliothekar, ebenfalls weiß. Frau Desirée nicht, weil sie etwas wirr ist und alles vergißt. Aber die Lehrerin verzieht den Mund. Nicht gerade dann, wenn das Mädchen es sieht, aber vielleicht, wenn sie sich umgedreht hat. Sie lächelt ihr ins Gesicht, außer dem einen Mal, als sie gesagt hat, es sei verboten, so etwas zu sagen. Sie erinnert sich schon nicht mehr an das, was sie ihr damals mitgeteilt hatte, weswegen die Lehrerin plötzlich eine andere, fremde Stimme bekam und sie anfuhr, das dürfe man nicht sagen, das sei nicht schön. Sie weiß nur noch, daß es ein wirkliches Geheimnis war, ein Liebesopfer, das sie ihrer Lehrerin darbrachte. Vielleicht sagte sie ihr ins Gesicht, sie sei schön. Vielleicht auch, daß Lydia Schemesch gelogen hat. Plötzlich, als sie die Gefahr eingegangen war, es ihr mitzuteilen, hatte Siwa gesagt: Das darf man nicht sagen. Ohne dieses Lächeln, bei dem man ihre weißen Zähne sieht. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum das Mädchen der Lehrerin nahe sein möchte. Und mehr als alles sehnt sie sich danach, die Lehrerin möge begreifen, daß unter dieser Haut, unter dem, was ihr da wachsen wird, noch etwas ist. Vielleicht. Wenn sie es wüßte, würde auch ihr dieser Zauber passieren. Er würde Wahrheit werden. Wenn die Lehrerin ihren Kopf auf dem langen Hals neigen und sie mit ihren braunen Augen anschauen würde. Ihr Blick ist nicht durchbohrend. Er ist weich und streichelnd, trifft eine Stelle, aus der eine warme Welle bis ins Gesicht aufsteigt, bis zu den Tränen.
Man sagt, sie sei Schönheitskönigin gewesen. Was bedeutet, daß man, während sie in der Klasse steht und mit ihrer weichen, ruhigen Stimme fragt, was Josefs Brüder wohl dachten, als er in der Grube war, sich vorstellt, wie sie einmal in einem weißen Badeanzug, mit einem blauen Band diagonal über der Brust, mitten auf einer Bühne stand, wie auf den Zeitungsfotos, und jemand ihr eine glänzende Krone aufsetzte.
Auch von ihrer Mutter sagen alle, sie sei sehr schön. Als ihre Mutter mit ihr zur Schule kam, starrte der Direktor sie ununterbrochen an. Der Direktor ist anders als alle Lehrer. Er hat ein großes Zimmer im zweiten Stock. Er spricht nicht mit den Kindern und kennt ihre Namen nicht. Seine Augen sind ebenfalls blau, aber von einem anderen Blau, zitternd und hell. Seine Nasenlöcher haben sich gebläht, als er die Mutter ansah. Und plötzlich hat er die blonden Zöpfe des Mädchens bewundert. Das ist deine Mutter? Wirklich? So jung. Vielleicht ist sie deine Schwester? sagte er, als spräche er mit dem Mädchen, und lächelte dabei die Mutter an, breit, mit vielen strahlenden Zähnen, und zog ein weißes, gebügeltes Taschentuch aus der Tasche seines blauen Anzugs. Er ist ein ganz besonderer Mann. Er trägt sogar eine Krawatte. Nach dem Besuch der Mutter zog jemand das Mädchen an den Zöpfen, als sie die breite Treppe hinaufrannte, verloren unter den großen Kindern, die ihr den Blick versperrten. Es war der
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