Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
Schild, Zafrir – und hat Angst gehabt. Bis sie sich plötzlich getraut hat zu klopfen. Und dann zu klingeln. Siwa, die Lehrerin, machte die Tür auf, das Mädchen war so klein und die Lehrerin so groß. Und drinnen war es sehr ruhig. Als wäre die Lehrerin allein. Am Anfang gab es noch Bonbons, das Mädchen wollte welche, genierte sich aber. Dann nahm sie doch eines, ein saures, aber die Schale mit den Schokoladenriegeln rührte sie nicht an. Schokolade macht schmutzig. Das Buch lag auf ihren Knien. In dem grauen Packpapierumschlag war Nemecsek schon längst gestorben. Sie wollte das Buch nicht zurückgeben. Die Lehrerin schaute auf ihre kleine Armbanduhr, dann auf das Mädchen und fragte noch nicht mal nach dem Buch. Und in der Luft hing das Wissen, daß es nicht richtig gewesen war, herzukommen. Daß sie weggehen mußte. Aber sie wollte nicht. Sie wollte nicht weggehen. Auch nicht, als es klingelte und der Mann kam. Selbst wenn sie die Worte nicht verstanden hätte, hätte sie gewußt, daß das Flüstern im Flur sie betraf. Der Mann war groß und schwarzhaarig, zu groß für die Lehrerin, aber nett. Er lächelte sie verwirrt und freundlich an, als er sich in den zweiten Sessel setzte. Auch das Mädchen lächelte – und wußte dabei, daß sie gehen mußte. Sie wußte nur nicht, wie sie es anstellen sollte. Wenn sie aufstand und wegging, würden sie wissen, daß sie wußte, daß sie wollten, daß sie wegging. Da war es besser, so zu tun, als verstehe sie nichts, um ihnen die Schande zu ersparen.
    Der Mann fragte und fragte, das Mädchen verstand nichts, die Lehrerin antwortete nur mit Kopfnicken. Dann schwiegen sie alle drei. Das Mädchen wußte, daß sie etwas sagen mußte, aber ihr fiel nichts ein, was zu beiden gepaßt hätte. Schließlich kannte sie den Mann nicht, und er fragte nur nach dem Buch. Sie antwortete: »Die Jungen der Paulstraße« und hoffte, daß die Augen der Lehrerin aufleuchten würden und sie etwas Gnädiges zu Nemecsek sagen würde. Doch die Lehrerin sah aus, als habe sie nichts gehört. Vielleicht hatte sie wirklich nichts gehört. Sogar als sie noch einmal, zum zweiten Mal, »Die Jungen der Paulstraße« sagte, sprang die Lehrerin nicht auf. Zwischen ihren dünnen Augenbrauen entstand eine Falte. Auch der Mann sah nicht aus, als würde er es verstehen. Sie wollte ihn fragen, ob er es kenne, aber er blickte die Lehrerin mit hilfloser Erwartung an, und die Lehrerin straffte den Rücken und schwieg. Da lächelte er und sagte etwas in einer fremden Sprache, nicht in der, die ihre Eltern benutzten, sondern in einer anderen, die sie schon einige Male im Kino gehört hatte. Und die ganze Zeit wußte sie, daß sie gehen mußte. Aber sie konnte ihre Beine nicht bewegen, etwas hielt sie wie angeschmiedet an ihrem Platz fest. Etwas brachte sie dazu, nicht nachzugeben. Mit dem Nachgeben würde auch der Zorn kommen. Und die Scham. Das wußte sie zwar noch nicht wirklich, sie fühlte es nur an den Fußsohlen, am Starrwerden ihrer Knie. Sie saß starr da, in dem kleinen Wohnzimmer, in dem Sessel mit den spitzen Lehnen und den dünnen Beinen, den gewirkten Blumen in dem harten, roten Stoff, und betrachtete ihr Gesicht, das sich im schwarzen Glas des viereckigen Tisches spiegelte, und in dem Teller, auf dem die Schokoladenstückchen lagen, die sie so liebt und nur nicht angerührt hatte, um nichts zu beschmutzen, und die Kekse, die sie nicht genommen hatte, um keine Brösel zu machen und vor allem um nicht im Beisein der Lehrerin Siwa zu essen, denn Essen ist etwas Grobes und Ungehöriges und paßt nicht zu den eleganten Bewegungen der Lehrerin, die nun die Hände an die Seiten legte, als sammle sie Kraft zum Aufstehen.
    Und wirklich stand sie plötzlich auf und sagte mit ihrer schönen Stimme, jetzt sei es Zeit für sie, nach Hause zu gehen. Das Mädchen mußte sich zusammennehmen, um die Lippen zu etwas zu verziehen, was wie ein fröhliches Lächeln aussah, und um zu sagen: Ich darf bis sieben Uhr bleiben.
    Aber wir müssen gehen, erklärte die Lehrerin geduldig und stand neben dem Sessel. Auch das Mädchen stand auf und ging zur Tür. Sie wollte fragen, wohin sie gingen, wagte es aber nicht. In dem engen Flur folgte ihr die Lehrerin, als bewache sie ihre Schritte. Und das Mädchen fühlte, wie sich hinter ihrem Rücken der warme, braune Blick in etwas Hartes, Bläuliches verwandelte, alles sehend und alles wissend, ihre Schande erkennend und nicht verzeihend. Schon dort im Flur wußte das Mädchen, daß

Weitere Kostenlose Bücher