So muss die Welt enden
Justine spürte, daß hier ausnahmsweise einmal geeignete Kunden vor ihr standen. Normalerweise kreisten ihr über jenes Getier des Warenbestands, das zuwenig oder zuviel Beine hatte – die Pythons, Indigonattern, Skorpione, Taschenkrebse und Spinnen –, nur trübe Gedanken durch den Kopf, allerdings nicht, weil es ihr Grausen eingejagt hätte (das tat es nicht), sondern weil es als Ulkgegenstand über den Ladentisch ging, die verkehrten Leute es aus den falschen Gründen kauften. Aber als sie diesen Jungen ansah, einen Verlierer in jeder Hinsicht – ein häßliches Entlein und schüchterner Plumpsack –, erkannte sie, wie dringend er die Tarantel brauchte, und wie bitter die Tarantel ihn benötigte.
Deshalb faßte Justine einen Vorsatz, den sie – unter anderem – als Erprobung ihres Schauspieltalents verstand. Mehr als alles andere hätte Georges Ehefrau gerne geschauspielert. Eine Traumtänzerin war sie allerdings nicht: Sie gaukelte sich keine Hollywood-Hirngespinste vor. Ihre nüchtern-bescheidenen, durchaus verwirklichbaren Ambitionen galten Aussichten, der Clown zu sein, der Kindern Luftballons aufblies, dem Rundfunk die Stimme zu leihen, die den Hörern mitteilte, wo sie ein neues Sofa erstehen könnten, oder die hübsche Dame des lokalen Kabel-TV-Senders, die veranschaulichte, warum man die Wildgrover Eisenwarenhandlung oder die Baguetterie da Bruno (oder beispielsweise auch die Fa. Freund des Menschen) frequentieren sollte.
»Wie heißt du denn?« fragte sie den Jungen in Flötentönen, die seinem Ego schmeicheln mußten.
»Andy.«
»Na, eines kann ich dir sagen, Andy, die Spinne wird der Neid deiner Freunde sein. Das garantiere ich dir.«
»Ich habe gehört, sie können jemanden umbringen«, sagte seine Mutter und zwinkerte Justine humorig zu. Ohne genau diese Mutter, schlußfolgerte Justine, wäre Andy lebensunfähig.
»Wenn man eine Tarantel schlecht behandelt, dann beißt sie, o ja. Ähnlich wie ein Hund.« Justine wickelte einen Streifen Spearmint-Kaugummi aus und steckte ihn sich mit theatralischer Gebärde zwischen die Zähne. »Das Gift ist unangenehm, aber keinesfalls tödlich. An sich sind Taranteln keine wilden Biester, sondern ziemlich empfindsame Tiere.«
»Werden sie nicht irgendwie langweilig?« erkundigte sich die Mutter.
»Nicht wenn sie einem ’n Giftbiß verpassen, nein«, antwortete Justine, und die Mutter lachte.
»Kann man mit ihr spielen?« wollte Andy erfahren.
»Klar kann man mit ihr spielen.« Justine hob die Tarantel aus dem Terrarium und setzte sich ihren pelzigen Leib auf die Schulter. »Siehst du?« Während das Tier Justines Arm hinabkrabbelte, leuchtete Andys Miene hell und heiß wie eine Glühbirne.
»Boooh!« lautete seine Beurteilung.
Wenn eine Tarantel hinfällt, ist das Ergebnis immer das gleiche. Sie platzt. Justine durchschaute nie so recht, weshalb die Spinne in Panik geriet und von ihrem Unterarm sprang, obwohl das Unglück sich gleichzeitig mit dem plötzlichen, ungestümen Aufkreuzen Harry Sweetsers ereignete und ohne weiteres dadurch ausgelöst worden sein mochte. »Arrgh!« brüllte er, als die Vierzig-Dollar-Spinne barst.
»Herrje, das tut mir leid, Mister Sweetser.« Justine verspürte Mitleid und Bedauern. »Armes Vieh.«
»Frauen sollten davon die Finger lassen.« Der angekahlte, kleine Zappelphilipp Harry hatte zum Ausgleich eine doppelte Hüftrolle. »Sie sind zu zimperlich.«
»Na, sie ist ja wohl nur hinuntergeplumpst«, erwiderte Justine, »weil Sie hier so stürmisch angetanzt sind.«
»Neue Anordnung«, sagte Harry Sweetser. »Wer keine Arachniden anfassen kann, ohne sich zu gruseln, darf sich nicht mehr damit abgeben.«
»Warum bleiben Sie nicht, wo der Hund begraben liegt, Mister Sweetser?« maulte Justine zurück. Sie dachte über die Entgegnung nach, fühlte sich dabei erstaunlich wohl und bleckte dramatisch die Zähne.
Harry Sweetser erteilte ihr die Anweisung, die Überreste der Tarantel aufzukehren. »Und danach will ich Sie in meinem Büro sprechen«, fügte er hinzu, indem er jedes einzelne Wort unheilvoll betonte.
»Ich glaube, heute haben wir an Taranteln kein Interesse mehr«, sagte Andys Mutter, während sie sich die Bescherung auf dem Fußboden besah. Sie schob ihren verstörten Sohn zum Laden hinaus.
Als sie Harry Sweetsers Büro betrat, bemerkte Justine mit gelinder Überraschung, daß er nicht an seinem Schreibtisch saß. Er stand, die Daumen in den Gürtel gehakt, in der Mitte des Teppichs. »Ich glaube,
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