So nicht, Europa!
will, anders als alle anderen Reiche der Weltgeschichte, ein Imperium sein, dasnicht durch Unterwerfung wächst. Sondern durch Überzeugung. Doch auch dafür, gerade dafür, wäre ein starker Glaube an sich
selbst nötig. Daran fehlt es Europa.
Im Frühjahr 2003, im Pulverdampf des beginnenden Irakkriegs, glaubten Jürgen Habermas und Jacques Derrida die Wiedergeburt
Europas ausrufen zu können. Amerika, schrieben die beiden Philosophen, müsse Europa eine Warnung sein. So wie George W. Bush dürfe man keine Weltpolitik betreiben. In der Opposition zum Feldzug gegen Saddam Hussein, glaubten die Vordenker, erblühe
die wahre europäische Nachkriegsidentität. Doch die deutsch-französische Intellektuelleninitiative blieb ohne nennenswertes
Echo. Sie beschrieb eher ein momentanes, vorübergehendes Gemeinschaftsgefühl als eine echte, belastbare Gemeinsamkeit. Allein
das Bewusstsein dafür, was Europa
nicht
sein will, zeigt sich, reicht eben nicht für eine prägende Rolle auf der Weltbühne.
Wahrscheinlich ist Brüssel die einzige Stadt der Welt, die auf so engem Raum so viele Menschen mit so viel gemeinsamer Agenda
zusammenbringt. 35.000 E U-Beamte leben hier, 2500 Diplomaten, Zehntausende Abgesandte von Verbänden, Firmen, Redaktionen und Instituten. Die Stadt dürfte sich zu einem der
dichtesten Netzwerke der Erde gemausert haben. Brüssel ist Google in der Echtwelt. Man findet alles und jeden. Und vieles,
was man nie gesucht hat.
Wenn die Bürogebäude mittags ihre Insassen ausspucken, bricht rund um die Place Schuman die Betriebsamkeit eines Großflughafens
aus. Damen in engen Röcken balancieren über Holzbohlen, die über einem Aushub für die neue Landesvertretung von Malta liegen.
Krawattenträger versuchen, durch das Protestgetriller von französischen Milchbauern hindurch Meinungen über den Lissabon-Vertrag
auszutauschen. Doch hinter all dem Lärm und der Hektik herrscht die Mentalität eines Dorfes. Europas Diener strömen in die
Restaurants entlang der Fressmeile Rue Archimède. Es sind die Orte der freundlichen Mauschelei und der plötzlichen Duz-Attacken.
Aus Visitenkarten vom Vorabend werden hier Bekanntschaften fürs Brüsseler Leben. Das E U-Viertel , in das sich außer vereinzelten Touristen kaum jemand verirrt, der nicht hier arbeitet, vermittelt seinen Bewohnern das wärmende
Gefühl, unter sich zu sein. Espressomaschinen fauchen durchüberfüllte Tischreihen. Gestresste Kellner bahnen sich ihren Weg in die Küche, schlängeln sich vorbei an Kommissionsbeamten,
Verbandsvertretern und Journalisten, die über CO 2 -Grenzwerte diskutieren, über Arbeitszeitrichtlinien, über Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise. Oder über die Wiederwahl
von José Manuel Barroso. Kaum jemand in der Brüsseler Schaltzentrale findet die Leistungen des Portugiesen, den die E U-Staatschefs im Sommer 2009 für weitere fünf Jahre an die Spitze der Kommission setzten, beeindruckend. Viele fragen sich, warum Europa
nicht entschlossener auftritt, auch gegenüber seinen Mitgliedstaaten. Und wieso bloß blieb Barroso der einzige Bewerber für
den angeblich so gestaltungsmächtigen Job des Kommissionspräsidenten?
Dieses Buch will die Frage beantworten, warum es der Europäischen Union so schwer fällt, das richtige Maß ihrer Macht zu finden.
Warum ist sie aus Sicht so vieler Europäer anonym und unzugänglich, und aus der Sicht so vieler Nicht-Europäer so schlaff?
Was ist die Ursache dafür, dass der größte Staatenverbund der Welt, der zugleich den leistungsstärksten Wirtschaftsraum darstellt,
ein so schlechtes Image bei seinen eigenen Bewohnern hat?
Es sind, kurz gesagt, drei Fehler. Die EU regelt das Kleine zu groß und das Große zu klein. Sie regelt das Weiche zu hart
und das Harte zu weich. Und sie bewegt sich oben zu schnell und unten zu langsam.
Unter dem Banner des einheitlichen Binnenmarktes für Güter und Arbeit hat sich die EU zu einer Normenfabrik ausgewachsen,
die den Anspruch auf gesellschaftspolitische Gestaltung kleinster Lebensbereiche erhebt. Die Kommission begreift den Kontinent
bis heute zu wenig als einen Global Player und zu sehr als ein Gehege, dessen Bewohner gegen harte Witterungsbedingungen geschützt
werden sollen. Nirgendwo auf der Welt haben Menschen so viele geschriebene Rechte wie in Europa. Nirgendwo haben sie so viel
Urlaub. Nirgendwo so viele Sozialleistungen und einen so ausdifferenzierten Verbraucherschutz.
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