Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
Vom Netzwerk:
Soldaten ihrer Majestät die Furcht, sie sollten missioniert
     werden. Als die Munition ausgegeben wurde, brach in einer unscheinbaren Provinzkaserne ein Aufstand los. Es war der Anfang
     vom Ende des größten Imperiums, das Europäer je geschaffen hatten.

[ Menü ]
    Der erste Fehler: Kleines zu groß und Großes zu klein
    1.   Kleines zu groß
    Auf der Suche nach der Politik
    Der Eigensinn der menschlichen Natur [wird] bloßgelegt in den unkontrollierten Beziehungen zwischen Nationen.
    Immanuel Kant
     
    Fühlst Du nicht an meinen Liedern,
    Dass ich Eins und doppelt bin?
    Johann Wolfgang von Goethe, Ginkgo biloba
     
    Direkt vor der E U-Kommission steigen ein paar Touristen aus den roten Hop-on-Hop-off-Doppeldeckerbussen von »Sightsee ing Brussels«. Eine scheue Ehrfurcht legt sich auf ihre Gesichter, als sie die Kameras vors Auge heben. Wie eine mächtige Schwinge
     legt das Berlaymont-Gebäude vor ihnen. 14   Stockwerke hoch, mit einer Fassade aus über 3000   Fenstern, verkleidet mit einem Schuppenkleid aus metallenen Sonnenblenden, thront das Hauptquartier der E U-Kommission seit 1967 auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters. Daher sein Name. Das Berlaymont ist die bekannteste Brüsseler Fernsehkulisse.
     Wenn Nachrichtenreporter verkünden, Günther Oettinger werde neuer E U-Kommissar , wenn sie erklären, dass die Agrarminister die Milchbauern unterstützen wollen oder dass die Wettbewerbshüter Bedenken gegen
     den Opel-Magna-Deal äußern, wählen sie zumeist den Flaggenhof des Gebäudes als Hintergrund. Blau flattert dann die EU in Europas
     Wohnzimmer.
Berlaymonstre
lautet eine Brüsseler Verballhornung des gigantischen Bauwerks. Anfang der 90er-Jahre stellte sich heraus, dass es mit Asbest
     verseucht war. Dreizehn Jahre dauerte die Sanierung. Die Touristen mühen sich. Sie drehen und wenden die Kameras. Aber es
     klappt nicht. Das Berlaymont lässt sich schlicht nicht einfangen mit gebräuchlichen Fotoapparaten. Zu groß ist es, und zu
     eng seine Umgebung, um die Dimensionen einzufangen. Nur Ausschnitte des Baus werden die Brüsselbesucher zu Hause von ihren
     Kameras laden. Ungefähr genauso verschlossen bleibt den meisten Fernsehzuschauern die Behördenmechanik der Europäischen Union.
     Es scheint unmöglich, sich ein Bild zu machen.
     
    Vielleicht ist es eine gute Idee, einen Toten zur Hilfe zu bitten. Nehmen wir Auguste Comte, den Gründervater der Soziologie.
     Der Franzose, gestorben 1857, war ein Anhänger des Funktionalismus. Er begriff die Gesellschaft als System normierter Handlungen
     und die Kultur als System von Institutionen. Comte glaubte, dass sich Politik gänzlich unblutig gestalten lässt, wenn man
     auf sie nur die zuverlässigen Gesetze der Wissenschaft anwendet. Ähnlich wie Ingenieure Maschinen konstruieren, so war Comte
     überzeugt, müsse sich auch eine friedliche Gesellschaft konstruieren lassen. Was würde wohl passieren, wenn wir Comte für
     einen Tag wieder zu Leben erwecken könnten und ihn vor das Berlaymont stellen würden? Der Mann würde, vor den Augen nunmehr
     gänzlich ungläubiger Touristen, vermutlich in Freudentränen ausbrechen. »Ja also!«, hören wir ihn rufen. »Es geht doch: Ordnung
     und Fortschritt! Das dritte und perfekte Gesellschaftszeitalter!« Vor dem Eingang des Berlaymont fällt er auf die Knie. »Heureka!
     Hier ist es!«
    Ist es das?
    So gruselig das E U-Viertel architektonisch auch anmuten mag, es verkörpert doch einen Traum. Es ist die Vision von jenem Elysium, das Schiller in seiner
     Ode ›An die Freude‹ besingt: »Alle Menschen werden Brüder.« Wie viele Fürsten, Könige und Kaiser mussten Europa nicht verheeren,
     bis endlich eine hoffnungsvollere Entwicklungsphase anbrach? Sechzig Millionen Europäer starben während der ersten Hälfte
     des 20.   Jahrhunderts durch Kriege und staatlichen Terror. Der Staat stand bis vor hundert Jahren nicht für Gerechtigkeit, sondern
     für Macht. In zwei darauffolgenden Epochen übernahm das Volk die Souveränität. Im Westen des Kontinents geschah diese Emanzipation
     grob gesprochen ab 1945.   In Osteuropa dauerte es bis 1989.   Und nun, im vereinten Lissabon-Europa des Jahres 2010, das würde jedenfalls unser Comte im Angesichte Brüssels glauben, ist
     eine dritte, noch edlere Entwicklungsphase zu bestaunen. Die Herrschaft der wahren Eliten.
    Im Berlaymont-Gebäude regieren nicht mehr die Intriganten und Manipulatoren der schmutzigen »Politik«. Hier lösen Sozialingenieure
     die

Weitere Kostenlose Bücher