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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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heiliges Feuer. Wer sie stört, wer aufmuckt, wird schnell als »EU- Skeptiker « oder »Anti-Integrationist« abgestempelt. Besonders den Deutschen, darauf pochen Politiker des Generationenbogens Helmut
     Kohl/Joschka Fischer, stehe es nicht gut an, die europäische Integration zu kritisieren. Immerhin habe Deutschland nach zwei
     Weltkriegen in der Brüsseler Gemeinschaft die Chance zur Resozialisierung bekommen. Der daraus folgende permissive Konsens
     gegenüber der Brüsseler Politik ist 65   Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges letzten Endes EU-schädlich. Politiker und Diplomaten aus unseren Nachbarstaaten sind
     längst erstaunt über die Büßerhaltung, die die Deutschen bis heute einnehmen. Sie erwarten vom größten Land Europas kein schlechtes
     Gewissen mehr. Sondern gute Ideen.
    Selbst Politiker, von denen man es nie erwartet hätte, scheinen einem regelrechten politischen Stockholmsyndrom zu erliegen,
     sobald sie die Brüsseler Stadtgrenze überqueren. Markus Söder von der CSU zum Beispiel wandelt sich erstaunlich schnell zum
     sympathisierenden Entführungsopfer. Er ist zur Wurstverkostung in die pompöse Bayernvertretung gekommen. »Schloss Neuwahnstein«
     heißt das Gebäude, ein ehemaliges medizinisches Institut direkt hinter dem Europaparlament, im Brüsseler Jargon. Mittlerweile
     ist es später Abend geworden, und Söder, ein kühles Glas Bier in der Hand, bekennt mit tiefer Stimme in eine Runde von Journalisten
     hinein, dass er schon als Bub in Franken »eine europäische Identität empfunden« habe. Und er bekundet: »Brüssel ist eine der
     Hauptstädte der Welt. Neben Washington, Peking und London ist Brüssel eine der Hauptstädte der Welt.« Sein Blick wirkt ein
     bisschen glasig, aber nicht unehrlich.
    Draußen, am Stadtrand, glitzert nachts das Atomium. Das Eisenkristallin 16 5-milliardenfacher Vergrößerung erinnert an den erzenen und glühenden Kern der EU, Kohle, Eisen und Stahl. Fünfzig Jahre nach der Weltausstellung
     1958 hat die belgische Regierung seinen Kugeln eine neue, hell glänzende Aluminiumhaut gestiftet. Neu aber könnte auch die
     Bedeutung sein, die dem Brüsseler Stadtsymbol mittlerweile zukommen mag. Ein Studienkollege, den es mittlerweile ebenfalls
     »in die EU« verschlagen hat, fand die vielleicht treffendste Beschreibung für den Effekt, den Brüssel auf Zugereiste ausübt.
     Er fühle sich, sagt er, an die Star-Trek-Filme mit den Maschinenmenschen erinnert, den »Borg«. »Sie werden assimiliert!«,
     tönte deren blecherner Kampfruf. Widerstand gegen die Rundum-Verdrahtung ist in der Tat zwecklos. Wer in Brüssel wohnt, hat
     keine Wahl. Ein Teil seines Gehirns gehört schnell der EU.   Und mit jedem neuen Teilnehmer, der andockt an diese Schnittstelle, stärkt sich das Kollektivbewusstsein.
    Eine Kehrseite dieser Corporate Identity ist es, dass als artfremd und versponnen gilt, wer die Frechheit besitzt, an der
     Weisheit des Ziels einer »ever closer union«, einer immer enger werdenden Union, zu zweifeln. Als die Franzosen und Holländer
     2005 die Europäische Verfassung in Volksabstimmungen ablehnten, wurde das Werk, leicht verändert, in Lissabon-Vertrag umbenannt
     und daraufhin von den Parlamenten abgesegnet. Als dann die Iren, die dem neuen Vertrag als einziges europäisches Land per
     Referendum zustimmen mussten, im Sommer 2008 ebenfalls ihre Zustimmung verweigerten, kamen in Brüssel nicht etwa Selbstzweifel
     auf. Stattdessen hieß es, die Inselbewohner müssten sich geirrt haben. Sie sollten bitte noch einmal abstimmen. Eben jener
     Dünkel, es besser zu wissen als die vermeintlich altmodischen Nationalstaaten, begründet den dritten Fehler der EU.   Sie bewegt sich oben, in Brüssel, zu schnell, und unten, beim Bürger, zu langsam.
    Die Geschichte lehrt, welches Schicksal Imperien droht, die die Wirkung des falschen Kleinen unterschätzen, das richtige Große
     unterlassen und die Gewohnheiten der Bevölkerung ignorieren. Im Jahr 1857 machte im britischen Kolonial-Indien das Gerücht
     die Runde, die Munition für die indischen Kron-Soldaten sei mit Tierfett geölt. Da die Enden der Patronenhülsen abgebissen
     werden mussten, bevor sie in die Gewehre gesteckt wurden, gingen sowohl Hindus wie auch Moslems das Risiko einer schweren
     Sünde ein. Sie konnten ja nicht wissen, ob das Fett nicht von Kühen oder Schweinen stammte. Obwohl die britischen Kolonialherren
     nichtsdergleichen im Sinn hatten, verbreitete sich unter den indischen

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