So nicht, Europa!
Probleme eines Kontinents, mit gebührender Expertise und nüchterner wissenschaftlicher Präzision. 35.000 Fachleute tüfteln dort und in Nebengebäuden an einer besseren Welt, unterstützt von ungezählten Heerscharen an Lobbyisten,
Meinungsforschern und Think-Tanklern. Sie wachen darüber, dassdie bestehenden Verträge eingehalten werden, und erdenken zugleich neue Regeln für ein immer vereinteres Europa. »Famos!«,
ruft unser Comte.
Doch nicht alle entwickeln so warme Gefühle gegenüber dem europäischen Verwaltungsapparat. Die Menschen spüren, dass er nicht
in ihre gewohnte, einigermaßen nachvollziehbare politische Lebenswelt passt. Die Unterschiede zur nationalen Politik sind
ja nicht zu leugnen. Die E U-Kommission ist eine post-demokratische Behörde. Hinter der futuristischen Glasfassade des Berlaymont herrscht eine überstaatliche Geschäftsführerdemokratie,
ein Massenmanagement, das keinen Streit, keine Parteien, keine Helden und keine Tragik mehr kennt, sondern nur noch soziale
Physik und juristische Mechanik. »Zu garantieren, dass die Politik das Sagen hat, ist im Brüsseler Apparat schwieriger als
daheim«, gestand der ehemalige deutsche Kommissar Günter Verheugen, als er im Winter 2010 sein Büro räumte. 1
Keiner der 27 Kommissare oder ihrer Generaldirektoren ist vom Volk gewählt. Sie werden von den Staatschefs der EU benannt und vom Europäischen
Parlament in einem eher rituellen Anhörungsverfahren bestätigt. Wenn einer von ihnen geht und ein neuer kommt, bekommt das
kaum ein Bürger mit. Den eigenen nationalen Kommissar mag die Öffentlichkeit vielleicht noch kennen. Aber wer wusste schon,
dass Dalia Grybauskaite Kommissarin für Finanzen und Haushaltsfragen war, bevor sie im Mai 2009 Brüssel verließ, um Staatspräsidentin von Litauen zu werden? Im Foyer des Berlaymont, noch bevor man vor die breite, holzgetäfelte
Rezeption tritt, hängt ein riesiges Gruppenfoto von allen Kommissaren, daneben eine Abbildung mit den Umrissen der Abgelichteten,
die Auskunft über ihre Namen und Herkunft gibt. Wenigstens die Mitarbeiter der Kommission sollen eine Chance haben, ihre Chefs
zu erkennen, wenn sie ihnen im Aufzug begegnen.
In Deutschland mag die Vertretung der Bürger durch die Politiker noch den Charakter einer zeitlich begrenzten Vollmacht besitzen,
erteilt für einen überschaubaren Ereignisraum von jeweils vier Jahren. Die europäischen Institutionen hingegen tragen den
Charakter einer dauerhaften paternalistischen Vertretung. Während die Bürger in den Einzelstaaten Politiker immer nur testweise
einstellen, ist Brüssel in gewisser Weise ein elterliches Sorgerecht für kontinentale Fragen eingeräumt. Ein Kommissar hat,
einmalbestellt, keine Angst vor den Bürgern. Er hat Angst vor dem Unmut seines und anderer Regierungschefs. Denn nur die können
seine Wiederwahl gefährden. Politiker, die ins Berlaymont verpflanzt werden, verwandeln sich zu Regierung
en
beamten.
Den hohen Fachbeamten in diesem Hause wiederum, von denen manche mächtiger (weil kenntnisreicher) als die Kommissare selbst
sind, hingegen fehlen politische Biografie und Denkart. »Es gibt bei uns viel zu wenige Leute, die wissen, wie man mit der
Öffentlichkeit arbeitet«, sagt einer von ihnen. »Du machst hier die Deals hinter verschlossenen Türen. Die wenigsten, die
nach Brüssel kommen, haben eine scharfe Kante. Und die, die eine scharfe Kante haben, bleiben nicht lange.« Politiker, die
zu Managern mutieren, und unsichtbare Beamte mit höherem europäischen Bewusstsein, die sie fernsteuern – ist diese Stadt,
ist die EU, die Endstation der »Politik«, wie wir sie kennen?
Trotz ihrer mangelnden demokratischen Legitimation besitzt die Kommission jedenfalls auf dem gemeinschaftspolitischen Feld
des Binnenmarktes einige scharfe Schwerter, die sie ohne vorherige Einwilligung der Mitgliedstaaten zücken darf. Allein zwischen
2005 und 2008 verhängte sie zum Beispiel wegen illegaler Preisabsprachen zwischen Unternehmen Kartellbußen in Höhe von fast
3,5 Milliarden Euro. In den Vereinigten Staaten, die als strenge Wächter des freien Wettbewerbs gelten, erließen die Behörden
2007 dagegen nur Strafbescheide in Höhe von 615 Millionen Dollar.
Unser Auguste Comte lächelt immer noch ganz verzückt, als wir seinen Kopf sanft nach rechts drehen. Dort, auf der Nordseite
der Rue de la Loi, liegt das klotzige Granitgebäude des Europäischen Rates.
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