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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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zu weich und das Weiche zu hart regelt.
    Während Washington zunehmend nach Osten blickt, betrachtet Brüssel weiterhin sich selbst. Statt sich über ihren Platz in der
     neuen Weltordnung klar zu werden, verbrachten die europäischen Staatschefs das vergangene Jahrzehnt damit, einen 358   Artikel langen Reformvertrag für die EU zu schnüren. Im besten Falle wird das Konvolut sich als überflüssig erweisen. Wahrscheinlicher
     und gefährlicher ist die Aussicht, dass Europas neue Bedienungsanleitung den Graben zwischen Bevölkerung und Brüsseler Gesetzgebern
     weitet.
     
    Der Lissabon-Vertrag, der am 1.   Dezember 2009 in Kraft trat, sollte eigentlich eine Dauerausrede aus der Welt schaffen, nämlich den gebetsmühlenhaften Hinweis
     darauf, dass die Europäische Union zunächst einmal stärkere Institutionen brauche, um mit lauterer, festerer Stimme zu sprechen.
     Die Zeit solcher Vertrags- und Institutionendebatten ist vorbei. Europa könnte nun beweisen, was es kann – und vor allem
will
. Doch im Wesentlichen, scheint es, bleibt vorerst alles beim Alten. Der Drang zu Harmonisierung wird von den neuen Abstimmungsregeln
     des Lissabon-Vertrages noch einmal befeuert. Die E U-Normenmaschine läuft heißer und heißer. Kommissionsbeamte und Europaparlamentarier rechtfertigen die Kreation immer neuer Richtlinien und
     Verordnungendamit, dass die EU eben gesetzgeberisch einschreiten müsse, wenn die Mitgliedstaaten nicht oder nur lückenhaft »tätig« würden.
     Sicher es ist die vertragsgemäße Aufgabe der Kommission, immer neue Ideen zu entwickeln, wie Europa enger zusammenwachsen
     kann, und zwar durchaus auch gegen den Willen der Mitgliedstaaten.
    Aber um diesen Job gut zu machen, müssen die gut 20.000   Beamten der Kommission beständig an der Grenze europäischer Zuständigkeiten entlangwandern. Die Skrupel, sie zu
über
schreiten, sind dabei gering. In privaten Gesprächen gestehen Mitarbeiter der Kommission freiweg ein, dass ihnen der Subsidiaritätsgrundsatz,
     also das Regelungsvorrecht der Mitgliedstaaten, herzlich egal sei. Rund um die Place Schuman hat sich ein bedenkliches Avantgarde-Verständnis
     ausgebildet. Die engstirnigen Politiker in den Mitgliedstaaten, sagt es, haben eben immer noch nicht begriffen, wie der Hase
     läuft in Europa. Wenn die Eurokraten von der Bevölkerung immer mehr als entrückte Elite betrachtet werden, die auf einem politischen
     Autopiloten fliegt, ohne Bodenkontakt, ohne Bremsen, dann hat dies seinen Grund vor allem in diesem internationalistischen
     Korpsgeist. Die Folge ist eine – tatsächlich, nicht nur gefühlt zunehmende – Ohnmacht der Bürger gegenüber »denen in Brüssel«.
    Natürlich müssen Kompetenzen auf die nächsthöhere Ebene wandern, je größer die Gegenstände werden, die Politik zu managen
     hat. In Brüssel allerdings mangelt es an den gewohnten
checks and balances
, an dem ganz selbstverständlichen und fruchtbaren Streit um politische Ideen und Zuständigkeiten. Die EU versteht sich als
     wahr gewordener kantischer Traum vom ewigen Frieden. Die politische Methode im Vielvölkerstützpunkt Brüssel lautet Kooperation
     statt Konkurrenz. Versöhnung statt Vorwürfe. Konsens statt Konfrontation. Oder, wie das offizielle Motto der Union, »Einheit
     in Vielfalt«. Ein bisschen ist Brüssel auch ein ewiges Woodstock.
    Die Frage, warum die E U-Staatschefs die Besetzung der beiden neuen Topjobs, des ständigen Ratspräsidenten und des europäischen »Außenministers«, Ende 2009 in
     Hinterzimmergesprächen aushandelten statt eine öffentliche Debatte um die besten Köpfe zu entfachen, beantwortet ein deutscher
     Europaveteran so: »Wir sind in der Europäischen Union nicht so weit, dass wir solche Dinge per Mehrheitsentscheidungen regeln
     können. Es würde sichimmer einer verletzt fühlen. Und dann wäre die Stimmung im Eimer.« Nun ist Rücksicht aufeinander zweifelsohne ein politischer
     Wert an sich. Doch die Zwangsharmonie der EU erreicht ein Maß, das jede gute Partnerschaft vermeiden sollte, wenn sie nicht
     zur Fassade verkommen will. Eine der grundlegenden Brüsseler Untugenden lautet Feigheit vor dem Freund. Die Folge: Die EU
     regelt Hartes zu weich und Weiches zu hart.
    Wenn sich die EU streitet, dann stellt dies, so empfinden es viele ihrer Hauptdarsteller, die EU selbst infrage. Das ist natürlich
     eine Fehlannahme, denn Staatswesen leben vom Streit und steigen erst durch Gegenwind. Doch in Brüssel gilt die Nestwärme als
    

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