So nicht, Europa!
sicherste Weg, Protest von rechts zu provozieren. In Österreich haben
unlängst die beiden großen Volksparteien ÖVP und SPÖ ihre grundsätzlich integrationsfreundlichen Positionen aufgegeben, um
nicht den Anschluss an eine zunehmend zornige Wählerschaft zu verlieren, und dadurch einen Bruch der Regierungskoalition provoziert.
In Belgien stellt in einigen Städten der rechts-separatistische Vlaams Belang die Mehrheit in der Kommunalverwaltung, und
in den Niederlanden feiern EU-feindliche Populisten ebensolche Erfolge wie die faschistoide Fidesz in Ungarn oder die Lega
Nord in Italien.
Die E U-Kritik hat aber nicht nur die klassischen Milieus der sozialen Verlierer erfasst. Sie grassiert in der Linken ebenso wie in der
intellektuellen Elite. Gewerkschaften und globalisierungskritische Netzwerke wie Attac bezichtigen die EU, Katalysator eines
libertären Marktglaubens zu sein. Sie erregen sich insbesondere über Urteile des Europäischen Gerichtshofes, die ihrer Ansicht
nach das Streikrecht und die Tarifautonomie unterminieren.Selbst die Richter des Bundesverfassungsgerichts bauten im Sommer 2009 unverblümt politisches Unwohlsein in ihr Urteil über
den Lissabon-Vertrag ein. Die Europäische Union stehe »in einem Wertungswiderspruch zu der Grundlage ihres Selbstverständnisses
als Bürgerunion«, hielten ihr die Richter vor. Zur Begründung arbeiteten sich die Juristen etwas fadenscheinig an der mangelnden
Wahlgleichheit des Europäischen Parlamentes ab. Die Verteilung seiner Sitze erfolgt nach einem Schlüssel, bei dem das Gewicht
einer Wählerstimme in einem bevölkerungsschwachen Mitgliedstaates etwa das Zwölffache des Stimmgewichts eines bevölkerungsstarken
Mitgliedstaates betragen kann: »Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union (…) an einem
durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen
Repräsentation des Volkswillens.« Die Kritik an diesem eher mathematischen Problem (das Europäische Parlament müsste 3000 Mitglieder haben, wenn echte Wahlgleichheit herrschen sollte) wirkt im Urteilstext derart überbetont, dass sich der Eindruck
aufdrängt, die Verfassungsrichter wollten dieses Detail zum Anlass nehmen, um einmal grundsätzlich gegen die EU vom Leder
zu ziehen. Der nächste Satz ihre Urteils liest sich wie ein Hammerschlag gegen die politische Backform der EU: »Es fehlt,
damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung
so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit
zwischen Regierung und Opposition entstehen kann.«
Anfang 2010 nutzte der deutsche Essayist Hans Magnus Enzensberger die Verleihung einer dänischen Kulturauszeichnung zu einer
Philippika gegen die Europäische Union. Sie betreibe eine »politische Enteignung der Bürger« und benehme sich wie eine entpersönlichte
Übermacht, die sich der »Umerziehung« von fünfhundert Millionen Menschen verschrieben habe. »Ich räume gerne ein«, sagt Enzensberger,
»dass diese Herrschaft ohne Geheimpolizei und ohne Terror auskommt. Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. (…) Nun fällt es einer
jeden politischen Klasse natürlich schwer einzusehen, dass sie nicht unsere Herren, sondern unsere Diener sind. Lieber hält
man sich in diesem Milieu nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren zu. Deshalb wärees vielleicht an der Zeit, eine paneuropäische Spende ins Leben zu rufen. Vierzigtausend Hörgeräte wäre eine gute Investition,
um unseren schwerhörigen Vormündern in Brüssel, Straßburg und Luxemburg zu helfen und sie aus ihrer selbstverschuldeten Isolation
zu befreien.« 109
Wenn ein Enzensberger so etwas schreibt, muss das beunruhigen. Nicht etwa, weil er recht hätte mit seiner Bewertung. Sondern
weil darin die Wut eines klugen Kopfes zum Ausdruck kommt, der gewisse Entwicklungen einfach nicht mehr nachvollziehen kann.
Wenn selbst ein geistiger Chirurg wie Enzensberger nicht mehr weiß, wo er das Skalpell ansetzen soll, und stattdessen zu einem
Keulenschlag auf das ganze Gebilde ausholt, offenbart das ein geradezu gefährliches politisches Versäumnis. Die EU hat bei
ihrem Aufstieg viel zu wenig auf Bodenkontakt geachtet. Deswegen erscheinen ihre Vertreter so vielen Bürgern wie
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