So nicht, Europa!
eine neofeudale
Kaste. Die klassischen proeuropäischen Parteien, glaubt die grüne Europaabgeordnete Franziska Brantner, bereiten E U-Kritikern aller Couleur den Boden, »indem sie die an sie herangetragene Diskussion weitestgehend ignorieren und es versäumen, die Debatte
auf ein konstruktives Niveau zu heben«. 110
Die EU vermittelt heute den Eindruck eines Dauerläufers, der in die Fettverbrennungstrance geraten ist: Er sieht nicht mehr
nach links oder rechts, sondern folgt gedankenverloren dem Rhythmus seiner Schritte. Wie aber könnte eine konstruktive Debatte
über eine bessere EU aussehen? Die Autoren des Lissabon-Vertrages haben geglaubt, sie könnten per Verordnung einen gehobenen
Gemeinschaftssinn stiften. Das war ein Irrtum. Aber kann das überhaupt entstehen, ein klareres, bürgernäheres Europa?
»Stephen Dedalus, Class of Elements, Clongowes Wood College, Sallins, County Kildare, Ireland, Europe, The World, The Universe«,
schreibt der Romanheld in James Joyce’ ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹ als Eigentümerhinweis in sein Geografieheft.
Menschen sind erdnahe Wesen. Die Europäische Union sollte deshalb, als Erstes, nicht den Fehler fortsetzen, die Pathologie
Nationalismus, die darin besteht, andere Völker als minderwertig und feindlich zu betrachten, zu verwechseln mit der positiven
Dynamik einer überschaubaren kulturellen Gemeinschaft. »Im Alltagsleben lieben wir und identifizieren uns mit unserer Familie.
Aber das heißt doch nicht, dass wir die Nachbarfamilie hassen«,schreibt Gustavo de las Casas. »Dasselbe gilt für Nationalismus. Er erzeugt nicht Hass auf andere, sondern Sorge um den Mitbürger.
Wenn Bürger daran glauben, an einer nationalen Unternehmung teilzuhaben, schätzen sie das Wohlergehen des anderen wie ihr
eigenes.« 111 All das gilt, sollte man hinzufügen, natürlich nur im besten Falle, dann also, wenn es sich um einen aufgeklärten Nationalismus
handelt, der vielleicht am besten gar nicht als Nationalismus bezeichnet ist, sondern schlicht als Zugehörigkeitsgefühl, das
je nach Bezug an ein Dorf, ein Bundesland, einen Nationalstaat oder eine Weltregion geknüpft sein kann.
Es wäre ein »nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn man die Vollendung der politischen Integration gegen die vorhandenen
nationalen Institutionen und Traditionen und nicht unter deren Einbeziehung versuchen würde. Ein solches Unternehmen müsste
unter den historisch-kulturellen Bedingungen Europas scheitern«, sagte Joschka Fischer in seiner Rede an der Berliner Humboldt-Universität
im Mai 2000. So selbstverständlich diese Sätze klingen, so unerschüttert leiden sie auch unter einer ideologisch verstellten Wahrnehmung.
Was ist die »Vollendung« der Integration? Und wer ist »man«, der sie versucht? Das Gedankengebäude, in dem Fischer und viele
andere Nachkriegspolitiker wandeln, gründet auf einem imaginären Dualismus. Es gibt kein höheres Europawesen, das ein Leitbild
einer »Vollendung« vorgeben würde, und »man« können nur die Nationen selbst sein. Was immer in Europa geschieht, mag zwar
Folge des genetischens Codes »EU« sein, aber das heißt eben auch, dass europäische Politik nicht mit E U-Politik identisch ist. Es gibt eigentlich keine E U-Politik , sondern nur europäische Politik, die sich an den Regeln der EU orientiert.
Ein integrationsbetreibendes Über-Ich mag in den Köpfen der Generation spuken, für die die Europäische Idee noch immer der
beste Garant für Frieden auf einem chronisch kriegerischen Kontinent ist. In Wirklichkeit sind diese Zeiten vorbei. Mehr noch.
Die Idee einer europäischen Einigung ist älter als die beiden großen Kriege. Schon die Romantiker Novalis, Ernst Moritz Arndt,
die Gebrüder Schlegel oder Wordsworth in England träumten in den Zeiten der napoleonischen Eroberungszüge von einem vereinten
Europa. Und die künstlerischen Bande, die sich seit Jahrhunderten von Dublin bis nach St. Petersburg ziehen, sind nur ein
Wesensmerkmal des europäischen Kulturraums. Geeint wird Europa seit über 2000 Jahren von der griechischen Philosophie, dem römischenRecht, dem christlichen Glauben, der aufklärerischen Vernunft und der industriellen Revolution. (Insofern war es eine geniale
Idee des österreichischen Künstlers Robert Kalina, als er darauf kam, die Euro-Banknoten mit Abbildungen der für jede dieser
Epochen typischen Baustile zu versehen: Auf den Geldscheinen sind
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