So nicht, Europa!
sondern
Brodersbyer in der Fremde. Auf dem Friedhof dreht man denKopf und liest ihre Namen. Lorenzen, Paulsen, Nissen, Petersen, Thomsen … Elf Männer zählt der Gedenkstein der verlorenen Männer, die aus dem Ersten Weltkrieg nicht nach Angeln zurückkehrten. Im
Zweiten Weltkrieg fielen 18. Noch ein Lorenzen, noch ein Thomsen, ein Callsen, ein Gottfriedsen und ein Johannsen. Söhne von Vätern, Vätern von Söhnen.
Brodersby heißt übersetzt so viel wie Brüderdorf.
Der Fährmann, der heute Autos und Fahrradfahrer über die Schlei bringt, lässt sich in Euro bezahlen, das ehemalige Zollhaus
neben dem Anleger ist eine Gaststätte, und an dem Fischimbiss am Nordufer gibt es Brötchen mit Krabben, die Arbeiterinnen
in Marokko gepult haben. Die dänische Minderheit in Südschleswig hat ihre eigene Partei samt Landtagsvertreter, und ihre Schulen,
in denen Fotos des Kopenhagener Königpaares hängen, sind so beliebt, dass auch viele deutschsprachige Eltern versuchen, ihre
Kinder in einer von ihnen unterzubringen.
Um Milch, Obst und Gemüse zu holen, gehe ich von der Dorfkirche aus ein paar Meter weiter, in einen Gemischtwarenladen an
der Brodersbyer Hauptstraße. Hinter der Kasse sitzt Alf Schmidt. An ihm kommt keiner vorbei, ohne einen Klönschnack zu halten,
wie das hier heißt. Alf der Kaufmann leistet sich einen stolzen Unterton in der Stimme, wenn er über sein Warensortiment spricht.
»1600 Produkte aus Schleswig-Holstein. 300 Produkte aus 30 Kilometer Umkreis. 50 Prozent Bio. Nur 200 Produkte aus dem Ausland.« Zu Letzteren gehört der Tabak, den sich Schmidt in seine Pfeife stopft. Der Enddreißiger versprüht
den Unternehmergeist eines Harrods-Geschäftsführers und die Herzlichkeit eines Dorfpfarrers. Er überlegt gerade, noch eine
bescheidene Leihbücherei einzurichten.
Zwei ältere Damen stehen am Gemüsestand. Sie schauen einem Pärchen hinterher, das gerade den Laden verlässt. Leise fangen
sie an zu tuscheln. »War das nicht …?« – »Ja ja! War der nicht so lange krank? Sieht aber gut aus, jetzt.« – »Und wer war die Frau?« Was sich im »Markttreff«
von Brodersby abspielt, heißt im Jargon der EU
funktionierende soziale Infrastruktur
. Und tatsächlich, ohne die Europäische Union gäbe es das alles nicht. Die Brodersbyer haben einen Deal mit Brüssel geschlossen.
Um das vor Jahren aufgegebene Gemischtwarengeschäft an der Dorfstraße wiederzubeleben, beantragten sie 130.000 Euro aus E U-Fördertöpfen . Der Brüsseler Kommission kam die Anfrage gelegen, denn siemöchte die Milliardensubventionen für die Landwirtschaft nach und nach umwidmen in Anschubfinanzierungen für »ländliche Entwicklung«.
Alles, was neue Arbeitsplätze verspricht, seien es Künstlerateliers, ein zum Landcafé umgestalteter Leuchtturm, Solarparks
oder ein Heim für Demenzkranke, kann sich um europäische Förderung bewerben. Einzige Bedingung: Das Risiko muss geteilt werden,
und die Investition muss zukunftsfähig sein. Für die Brodersbyer bedeutete das, dass sie noch einmal 130.000 Euro aus ihrer Gemeindekasse zuschießen mussten, um den Marktreff zu bekommen. Zwölf Jahre lang, so die Vorgabe aus Brüssel,
muss der Laden laufen – ansonsten ist das Dorf verpflichtet, die Subventionen zurückzuzahlen.
Danach sieht es drei Jahre nach der Eröffnung kaum aus. Im Gegenteil, der Laden hat dem Dorf ein neues Herz gegeben. Neben
den Warenregalen steht ein Ensemble aus Bistrotischen, Kuchenauslage und Kaffeeautomat. Dahinter teilt sich ein Postschalter
den Tresen mit einer Touristeninformation, und gleich neben dem Schaufenster mit den Aushängen der örtlichen Kirche und Sportvereine
bietet eine Computerecke kostenlosen Internetzugang. »Es ist schon rührend, wie Omis, die sich seit fünf Jahren nicht gesehen
haben, sich hier zum Kaffee treffen, um dann zusammen im Bus zur Schwimmgymnastik zu fahren«, erzählt Alf Schmidt. Der Arzt
aus dem Nachbardorf habe schon berichtet, die Leute seien plötzlich weniger krank. Jedenfalls kämen sie nicht mehr wegen jedes
Zipperleins in seine Sprechstunde. Die kleine Kaffee-Ecke hat sich längst zum Stammtisch für Vereine und Bürgergruppen entwickelt,
und im Sommer rennen Urlauber Alf Schmidt die Tür ein. Der Bürgermeister von Brodersby, Bernd Blohm, denkt schon über die
nächsten Innovationen nach. Mehr Touristen möchte er in sein Dorf locken. Mit Hilfe der EU hat er gerade eine Slipanlage
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