So nicht, Europa!
für
Segeljollen an den Hafen bauen lassen. »Die wird angenommen wie verrückt«, freut er sich. Vielleicht, überlegen die Brodersbyer,
ließe sich als Nächstes im Markttreff ein Babysitterservice anbieten.
Was sich in dem Dorfladen besichtigen lässt, ist ein Europabild im Miniaturformat. Nicht nur, dass es hier zu gelingen scheint,
den Kapitalismus mit Sozialem und Ökologischem zu versöhnen. Das Beispiel der Brodersbyer Initiative zeigt auch, was die Europäische
Union leisten kann, wenn sie sich nicht in erster Linie als Regulator versteht, sondern als Ermöglicher – welche Potenziale
Brüsselentfalten helfen kann, wenn es die Eigenarten seiner Glieder nicht als Gefahr empfindet, sondern als willkommene Triebkräfte.
Was Europa insgesamt guttun würde, ist, mit anderen Worten, eine geregelte Schubumkehr.
»Für Freiheit und Recht« steht auf der Rückseite der Kreuze der Unabhängigkeitskämpfer an der Brodersbyer Dorfkirche. Darum,
im Kern, ging es den Bürgern Europas seit der Aufklärung: Die Macht des Staates sollte durch Verfassungen begrenzt und berechenbar
gemacht werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft diese Ratio umgedreht.
Alle Verträge, die erst die Montanunion, dann Euratom, dann die Europäische Gemeinschaft und später die EU begründeten, dienten
dem Zweck, die Macht der supranationalen Ebene zu stärken. Sicher, ohne Verträge wären diese neuen Ebenen, anders als die
europäischen Herrscherhäuser, gar nicht erst entstanden, und aus den Trümmern der Kriege ist auf diese Weise eine beispielhafte
Verkörperung internationalistischer Tugenden erwachsen. Die zwischenstaatlichen Beziehungen, die jeden Tag in Brüssel gelebt
werden, sind, jedenfalls im Grundsatz, ein leuchtendes Beispiel für praktizierten Frieden. Mittlerweile hat das institutionalisierte
Europa eine Karriere hinter sich, die so atemberaubend verlaufen ist, wie sie sich ihre Gründer wohl nie hätten vorstellen
können.
Mit dem Lissabon-Vertrag hat die Ausformung der Europäischen Union allerdings einen neuen qualitativen Schritt vollzogen.
Sie hat eine eigene Rechtspersönlichkeit erlangt. Im Verhältnis zu den Staaten ist sie heute selbst so etwas wie ein Staat.
Nach allen Lehren der Vergangenheit ist damit eine Schwelle erreicht, ab der die Staaten nicht mehr darüber nachdenken sollten,
wie sie diesen Überbau weiter ermächtigen, sondern ab der sie, ebenso wie früher die Bürger gegenüber ihrer nationalen Obrigkeit,
darüber grübeln müssten, ob und wie sie diese Macht sinnvoll begrenzen.
Die EU kann in Zukunft immer schneller und immer mehr Recht setzen. Nicht gewachsen ist hingegen ihre Macht zur Rechts
durch
setzung. Schon aus politikpraktischen Erwägungen wäre es deshalb klug, ihre Aktionen auf das praktisch Notwendige und Einsehbare
zu beschränken. Das eine »Haus Europa«, von dem Helmut Kohl sprach, gibt es schließlich nicht. Es gibt immer noch mehr als
27 europäische Häuser mit 500 Millionen Mietern. DieEU ist, wenn man schon so möchte, deren Eigentümerversammlung. Mit der Fülle ihrer Kompetenzen kann sie heute über große Teile
der Hausordnung bestimmen, außerdem über Renovierungsmaßnahmen und die Gemeinschaftskasse. Für die Mieter bringt dieses Modell
nicht nur Vorteile. Sind sie unzufrieden mit bestimmten Details der Hausordnung, mit Fehlausgaben oder mit der neuen Idee,
Überwachungskameras an den Häuserwänden anzubringen, können sie sich nur bei ihrem jeweiligen Eigentümer beschweren. Aber
was soll der unternehmen, wenn er in den zuständigen Bauausschüssen überstimmt wurde? 107 Wenn sich solche Antworten auf die Frage nach dem Verbleib der Verantwortlichkeit häufen, wird die Legitimationslücke zwischen
Mietern und Verwaltung größer und größer werden, und irgendwann werden die Mieter beginnen, den Wert des integrierten Wohnens
infrage zu stellen. Die Unzufriedensten von ihnen könnten vielleicht sogar beginnen, leise über den Paragrafen 50 des neuen
Mietvertrages zu diskutieren. Nach ihm ist jeder jederzeit zum Auszug aus dem Wohnprojekt berechtigt. 108
Die Europäische Union sollte die Gefahr von EU-feindlichem Liberalismus und Nationalismus nicht unterschätzen. Aber gerade
um diesen Zentrifugalkräften entgegenzuwirken, muss sie sich entkrampfen. Ihre Zielanstrengung kann es nicht sein, Integration
um der Integration Willen zu betreiben. Das ist der
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