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So schwer, sich leicht zu fuehlen

So schwer, sich leicht zu fuehlen

Titel: So schwer, sich leicht zu fuehlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Rosenkranz
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überstehen und dem Religionslehrer im Unterricht die Haare anzünden, was sie auch tat.
    Die Anführerin der Klasse hieß Sina. Ihr Vater war Polizist, und er hatte ihr erlaubt, sich die Haare zur Hälfte abzurasieren und blau zu färben. Ich bewunderte sie heimlich und ärgerte mich über meine Eltern, die mir so etwas nie gestattet hätten. Dafür malte ich mir eine Zeit lang jeden Morgen die Haare mit Wasserfarben blau an, denn auch ich wollte dazugehören!
    Sina und ich wurden Freundinnen, was den Lehrern gar nicht gefiel. Sie war die Rebellin der Klasse und wurde regelmäßig aus dem Unterricht geworfen. Mir war alles egal, so lange ich weiter abnehmen konnte.
    Alle in dieser neuen Klasse dachten, dass ich schon immer so dünn gewesen sei! Hinter mir saßen zwei wunderschöne Mädchen, die unendlich schlank waren. Ich dachte mir: „Wenn ich nur noch ein wenig abnehmen könnte, dann wäre ich so wie sie!“
    Doch wie konnte es sein, dass sie im Unterricht ständig Süßigkeiten futterten und in den Pausen noch dicke Sandwichs dazu? Sie machten keinen Sport und tranken Cola wie Wasser. Ich wollte auch so sein! Wieso hatte ich so schreckliche Gene geerbt? Hätte ich nur einmal so viel gegessen wie sie, ich wäre am nächsten Tag sicher wieder so fett geworden wie vorher!
    Gleich zwei Jungs aus der Klasse verliebten sich in mich, doch ich konnte es einfach nicht glauben. Ich reagierte sehr böse und aggressiv und warf ihnen vor, sie wollten sich nur über mich lustig machen. Der Junge hingegen, den ich bewunderte, war wie immer in meine Freundin verliebt.
    An ganz besonderen Tagen, wenn wir zum Beispiel irgendwo in einem Restaurant waren, war ich doch etwas großzügiger zu mir. Hin und wieder lud meine Oma die gesamte Verwandtschaft zu einem mehrgängigen Essen in einem feinen Lokal ein. Danach trafen wir uns alle bei ihr, wo es vor dem Abendessen noch massenweise Kuchen gab. Ich wusste also, dass alle an diesem Tag sündigen würden, und irgendwie beruhigte mich das. Dennoch musste ich die Lage unter Kontrolle haben und packte mir mehrere Knäckebrote mit fettarmem Putenschinken belegt für den Tag in die Handtasche, die ich dann heimlich aß, um keinen Heißhunger zu kriegen und dann bei den „schlimmen“ Nahrungsmitteln schwach zu werden.
    Für mich war selbst so ein Knäckebrot ein großes Ereignis! Doch eigentlich aß ich auch davon nur die Hälfte, während alle anderen Fleisch in Bratensauce und französische Delikatessen zu sich nahmen. Natürlich fiel auf, dass ich am Tisch dann nichts mehr essen wollte. Gang für Gang war das Ganze eine Qual für mich. Ich musste mir immer neue Ausreden ausdenken und zu irgendwelchen Tricks greifen, um mich durchzumogeln.
    Ich hatte meine Routine: Morgens aufstehen, als Erstes auf die Waage stellen. Das Gewicht, das nun auf der Anzeige vor mir erschien, entschied darüber, ob dies ein guter oder ein schlechter Tag wurde.
    Mein allererster Gedanken am Morgen war: „Oh nein, gestern Abend habe ich noch einen halben Joghurt gegessen. Das werde ich heute auf der Waage sehen und teuer bezahlen!“ Wehe, ich hatte 200 Gramm zugenommen, dann war der Tag gelaufen! Das bedeutete viel Sport und noch weniger essen! Wobei das kaum noch möglich war, weil meine Tagesration zu meinen „Hochphasen“ sowieso schon nur aus einem halben Apfel und etwas nullprozentigem Quark bestand.
    Mittags stand ich dann wieder auf der Waage. Dann war es okay, wenn ich etwas mehr wog, da ich Unmengen von Wasser trank, das ich später wieder ausscheiden würde. Wenn ich tagsüber dennoch weniger wog, war das ein unglaubliches Glücksgefühl. Das belohnte ich dann damit, dass ich gar nichts mehr zu mir nahm, um das verlorene Gewicht auch beizubehalten.
    Je weniger Gewicht die Waage anzeigte, desto weniger wollte ich wiegen. Ich durfte nie das Gewicht des Vortags überschreiten! Anfangs aß ich abends ja zumindest noch einen Apfel, doch schließlich gab es nur noch einen halben pro Tag! Und bald strich ich das Abendessen komplett von der Liste, und da ich mittags schon kaum noch etwas anrührte, hatte ich abends nicht selten bohrenden Hunger. Ich hatte schreckliche Angst vor diesem knurrenden Magen, doch gleichzeitig gab mir das Hungergefühl die Bestätigung, dass mein Körper nicht genug zu essen bekam, was positiv für mich war, denn dann musste er ja

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