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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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oder Nahrungsmittel miteinander zu vermischen – das sei schlecht für die Seele, stand in den Veden. Auch Fleischesser hatten bei uns nichts zu suchen. Und so waren wir dazu verdammt, rund um die Uhr spirituell bereichernde Nahrung zu uns zu nehmen – braunes Brot, Joghurt und all das andere widerwärtige Zeug.
    Ich konnte kein Teesieb finden, dafür aber ein großes Abtropfsieb unter der Spüle, das für meine Zwecke ebenso geeignet schien. Die Tassen wurden im anderen Gebäude aufbewahrt, also ging ich durch den Korridor nach drüben. Vor der anderen Mensa hatten sich die Jungs aufgereiht. Mein Dad war ebenfalls da und inspizierte ihre Hände. Wie immer war er besonders penibel. Er beugte sich vor, besah sich genau, wer schmutzige Finger hatte, und schickte den einen oder anderen zum Händewaschen. Rasch nahm ich zwei Tassen vom Regal, aber es war zu spät. Er hatte mich bemerkt.
    »Caroline?«
    Die Jungs wandten sich um. Marcus lächelte mich an. Ich liebte Marcus, und Marcus liebte mich. Letzte Woche hatten wir uns auf Gleis 2 in der U-Bahnstation Gloucester Road sieben Sekunden lang geküsst.
    Ich erhaschte Jason Winters Blick und warf ihm ein bedauerndes Lächeln zu. Seine Schwester war zu Beginn des Schuljahrs ums Leben gekommen. Sie war vom Dach eines Parkhauses gesprungen. Es musste ausgesehen haben, als hätte jemand ein Fass Erdbeermarmelade auf den Asphalt fallen lassen. Achtzehn war sie gewesen. Die Erwachsenen sagten, ihr hätte der innere Halt gefehlt. Ich stellte sie mir wie eine Tür vor, die im Wind knarrend hin und her schwang. Trotzdem wussten wir alle, warum sie sich in Wahrheit umgebracht hatte. Sie war gerade einmal ein halbes Jahr verheiratet gewesen, mit Mr   Gates, unserem Rechtskundelehrer – einem absoluten Widerling, dem Haare aus der Nase sprossen. Außerdem war er schon über vierzig. Jeder hätte ihr das sagen können, aber keiner machte den Mund auf. Stattdessen taten sie so, als wäre es ihre eigene Schuld, und waren besonders nett zu Mr   Gates. Tatsächlich aber ging der Vorfall allein auf Mr   Wapinskis Konto. Es war seine Idee gewesen. Er war der Kopf der Organisation und seit Neuestem geradezu versessen darauf, Mitglieder unserer Gemeinschaft miteinander zu verloben. Mir kam es so vor, als würde er die Regeln nach seinem Gutdünken zurechtbiegen, denn Miss Fowler erzählte uns bereits seit Jahren, vor unserem vierundzwanzigsten Lebensjahr dürften wir Jungs noch nicht einmal ansehen. Aber nun wurden wir Mädchen plötzlich bereits mit sechzehn verbandelt – mit Lehrern und alten Männern aus der Organisation. Niemand wurde gezwungen, doch wir wussten alle, was das in Wahrheit bedeutete. Niemand stellte sich gegen Mr   Wapinski. Und uns blieben gerade noch drei Jahre, bis wir selbst an die Reihe kamen. Hannah und Kate kicherten ständig und schienen es kaum erwarten zu können, wohingegen es für mich eine klare Sache war, dass ich es genauso wie Helen Winters machen würde, wenn er mich verkuppeln wollte. Ein älterer Mann kam für mich unter keinen Umständen infrage. Außer Mr   Steinberg natürlich.
    Jason Winters schien nicht recht zu wissen, wie er mein Lächeln deuten sollte, und wandte den Blick ab. Dad schickte die Jungs in den Speisesaal und kam zu mir herüber. Er verhielt sich mir gegenüber kein bisschen anders als ihnen gegenüber.
    »Was machst du denn hier?«
    »Ich soll für Miss Fowler und Mr   Mercer Tee machen.«
    Er musterte mich argwöhnisch. »Hast du schon wieder Ärger?« Er sah mich so böse an, dass ich den Kopf schüttelte.
    Ich eilte zurück, arrangierte alles ordentlich auf dem Tablett und wartete darauf, dass das Wasser endlich kochte. Mein Blick fiel auf Jason Winters’ Mutter, die Geschirr abtrocknete. Sie hatte dunkle Tränensäcke unter den Augen. Ich versuchte, sie nicht allzu auffällig anzustarren. Es tat mir leid, dass ihre Tochter tot war, aber gleichzeitig hoffte ich, dass sie Schuldgefühle hatte. Ich hätte jedenfalls nie im Leben eine Ehe zwischen meiner Tochter und Mr   Gates zugelassen.
    Vorsichtig trug ich das Tablett die Treppe hinauf und über die schwarzbraunen Fliesen, die zu Miss Fowlers Büro führten, stellte das Tablett auf den Boden und klopfte an.
    »Herein!«
    Ich öffnete die Tür und hielt sie mit dem Fuß auf, während ich das Tablett aufhob. Miss Fowler und Mr   Mercer saßen sich am Schreibtisch gegenüber und studierten irgendwelche Unterlagen. Sie grinste immer noch auf diese falsche, verzerrte Art,

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