So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
allerdings entglitten ihr die Gesichtszüge bei meinem Anblick. Mr Mercer machte Platz auf dem Schreibtisch, sodass ich das Tablett abstellen konnte. Ich wandte mich zum Gehen.
Mr Mercer hielt das Abtropfsieb in die Höhe. »Was ist denn das, Caroline?«
Jetzt erst wurde mir die absurde Größe des Siebs bewusst. Es war doppelt so groß wie die Teekanne.
»Ich konnte kein Teesieb finden«, sagte ich verlegen.
Er musterte mich, als hätte er mich noch nie im Leben gesehen, dann lächelte er und hielt Miss Fowler das Sieb entgegen, um sie an seiner Belustigung teilhaben zu lassen. Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, doch konnte ich genau sehen, dass sie verärgert war. Sie hatte mich quälen wollen, und er hatte ihr den Spaß verdorben.
Er hob den Deckel der Teekanne und spähte hinein. O Gott! Ich hatte vergessen, Tee hineinzugeben. Was ihn noch mehr zu belustigen schien.
»Hast du überhaupt schon mal Tee zubereitet?« Er zwinkerte mir zu. Ich schüttelte den Kopf.
»Wie gesagt, ich kann Ihnen gern Pfefferminztee anbieten«, erbot sich Miss Fowler. Würde diese Frau doch zur Abwechslung nur mal den Mund halten.
Aber Mr Mercer hörte ihr gar nicht zu, sondern musterte mich nach wie vor. Offenbar hatte er sich schon lange nicht mehr so prächtig amüsiert. Abwechselnd sah er auf das Sieb und in die Teekanne, als hätte ich einen besonders eindrucksvollen Zaubertrick vorgeführt. Er lachte, wischte sich die Tränen aus den Augen und schüttelte den Kopf. Dann packte er mein Handgelenk, als müsse er sich irgendwo festhalten. Miss Fowler sah ihn erstaunt an, dann wanderte ihr Blick zu mir. Ich erstarrte.
Ich war an ihren Zorn und ihren Hass gewöhnt, doch nun bekam das Ganze eine völlig neue Dimension. Es lag auf der Hand, dass ich eine Grenze überschritten hatte, nur wusste ich nicht, welche. In ihrem Blick stand blanke Abscheu. Sie sah mich an, als wäre ich eine dieser Frauen, die in Sexheftchen die Beine spreizten. Die Kälte ihres Blicks ging mir durch Mark und Bein, und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.
Im diesem Moment wusste ich, dass ein neuer Krieg ausgebrochen war.
2
Seit Jahren hatte ich keine Albträume mehr gehabt. Doch plötzlich weckte mich ein Schrei aus meinem eigenen Mund. Ich war schweißgebadet, das T-Shirt klebte an meinem Rücken, und meine Kehle fühlte sich an wie Schmirgelpapier.
Ich war auf einer Party gewesen, in einem großen weißen, vertraut aussehenden Raum mit glänzendem Boden. Ich hatte das Gefühl, einige der Gäste zu kennen. Sie waren keine vollkommen Fremden. Die Atmosphäre war entspannt, und alle schienen sich blendend zu amüsieren, aber irgendwann hatte ich genug. Als ich zur Tür ging, informierte mich ein Mann in weißem Anzug freundlich darüber, dass dieser Ausgang nicht genutzt würde. Ich bahnte mir einen Weg durch den vollen Raum und ging zu einer anderen Tür, wo mir eine Frau in weißem Kleid lächelnd erklärte, dass auch dieser Ausgang verschlossen sei. Als mir an der dritten und letzten Tür dasselbe mitgeteilt wurde, dämmerte mir, dass ich in der Falle saß und das Haus nicht verlassen konnte. Panik keimte in mir auf, doch dann ertönte eine laute Glocke, und Schweigen senkte sich über den Raum. Wir wurden in einen Speisesaal geführt und gebeten, an den sorgfältig arrangierten, festlich gedeckten Tischen Platz zu nehmen. Alles war perfekt: Die weißen Servietten waren wie Lotosblumen gefaltet, die Gläser funkelten, und das Besteck war so makellos poliert, dass sich das Licht darin spiegelte. Doch als ich näher hinsah, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Die ganze Pracht diente einem bestimmten Zweck. Die Gläser standen allesamt auf dem Kopf, und neben jedem befanden sich ein leeres Reagenzglas und ein Schlauch mit Kohlenmonoxid. Die nach Origami-Tradition gefalteten Servietten waren mit Chloroform getränkt. Auf allen blau-weiß gemusterten Tellern lagen vier rote, diamantförmige Tabletten, und die Messer waren groß und scharf wie Skalpelle. Es war ein Selbstmordfest. Jemand drückte mich auf meinen Platz auf der Bank. Dann saßen alle still, niemand sprach mehr ein Wort. Plötzlich hoben alle Anwesenden, ich eingeschlossen, die Hände zum Gebet, legten die Daumen an die Stirn. Om Paramatmanaynama . Ich wollte etwas sagen, konnte jedoch auf einmal nicht mehr sprechen. Hilflos musste ich mit ansehen, wie die Gäste ihrem Leben ein Ende setzten, die Augen schlossen, das Gift schluckten oder das tödliche Gas
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