So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
lange, bis du dich entschuldigt hast!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Entschuldige dich, dann kannst du in deine Klasse zurückkehren.«
»Ich habe die Vase nicht umgeworfen«, sagte ich zur Wand.
»Ach ja? Wer soll es denn sonst gewesen sein?« Sie glaubte mir nicht. Sie verzieh genauso wenig wie der Engel auf dem Bild. Ich hörte, wie sie ihre Unterlagen ordnete.
»Ich weiß es nicht.«
Sie stapelte die Papiere ordentlich aufeinander, dann hörte ich, wie sie den Reißverschluss ihrer Aktentasche aufzog. »Dann bleibst du eben so lange dort stehen, bis es dir wieder einfällt.«
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen, hielt sie jedoch mit aller Macht zurück. Meine Beine taten weh. Rotz lief mir aus der Nase und über die Lippen, aber ich wischte ihn nicht weg. Das wäre ein kleiner Sieg für sie gewesen. Nein, wenn es sein musste, würde ich den ganzen Nachmittag durchhalten.
Ich erschrak, als es an der Tür klopfte.
»Herein!«, keifte sie in ihrem gewohnten Tonfall, als hätte sie das Wort höchstpersönlich erfunden. Die Tür ging auf. Ich schielte hinüber, ohne mich zu bewegen. Es war der Direktor der Schule für die Jungen. Mr Mercer.
Es war mir peinlich, dass er mich in meiner vedischen Tanzkluft sah, barfuß und mit Tanzglöckchen an den Füßen. Doch Mr Mercer schenkte mir keine Beachtung. Er kam herein, schloss die Tür und lehnte sich dagegen.
Im selben Moment ging eine merkwürdige Verwandlung mit ihr vor. Ich spürte es, noch bevor sie etwas sagte. Plötzlich gab sie winzige japsende Laute von sich wie ein neugeborener Welpe. »Treten Sie doch näher«, flötete sie mit widerwärtig aufreizender Stimme, als wäre sie Gastgeberin einer Party. Ich hörte, wie ihr langes Kleid den Papierkorb streifte, als sie um den Schreibtisch herumkam.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte mit Ihnen über das neue Material von Seiner Heiligkeit sprechen«, sagte Mr Mercer. Wenn ich die Augen nach oben verdrehte, konnte ich sehen, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. Meinem Empfinden nach war er nicht halb so schlimm wie Miss Fowler, aber die Jungs sagten, dass er einen beinahe totschlug, wenn er erst einmal zum Rohrstock griff.
»Aber nein! Sie stören mich doch nicht. Nicht im Geringsten! Setzen Sie sich doch, Mr Mercer.« Aus irgendeinem unerfindlichen Grund begann sie zu lachen, doch es klang schrecklich unecht. Ich nutzte die Gelegenheit, mir die Nase abzuwischen.
»Du gehst jetzt zurück in deine Klasse, Caroline!«, befahl sie. Ich wandte mich um und erkannte sie kaum wieder. Da sie niemals lächelte, bekam man ihre Zähne so gut wie nie zu sehen – sie waren klein, gerade und gepflegt. Sie säuberte ihre Tintenfinger mit einem Papiertaschentuch, strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht und befestigte sie klammheimlich in dem ergrauenden Knoten an ihrem Hinterkopf. Dann beugte sie ihren stocksteifen Körper vornüber, um die Gaszufuhr im Kamin zu drosseln, als wäre ihr plötzlich zu heiß geworden.
»Ich hatte aber noch kein Mittagessen«, sagte ich, in der Hoffnung, auf diese Weise doch noch an etwas Essbares zu kommen.
Sie sah mich an, und zu meiner Erleichterung verschwand das Lächeln von ihren Zügen, so dass ihr Gesicht wieder wie ein Totenschädel aussah. Der Direktor stützte sich auf ihren Schreibtisch und wandte sich mir zu. Im Lauf der Jahre hatte er eine gewisse Zuneigung zu mir entwickelt. Ich stand so oft in jener Ecke, dass er mich offenbar als eine Art Haustier betrachtete.
Miss Fowler trat zur Tür, öffnete sie und fixierte mich, nun mit dem Rücken zu Mr Mercer, mit hasserfülltem Blick.
Ich wollte gehen, doch er hielt mich auf. »Caroline«, sagte er, als würde er einem Affen ein paar Nüsse hinwerfen. Natürlich sah er die Tränen in meinen Augen. »Wärst du so nett, uns Tee zu bringen?«
Er lächelte mich an, und sie setzte ebenfalls sofort wieder ein Grinsen auf, auch wenn es ziemlich gequält aussah.
»Ich habe Pfefferminztee da«, sagte sie süßlich.
»Danke, aber ich nehme lieber ganz normalen.«
»Aber selbstverständlich! Also, Tee!« Sie schubste mich beinahe durch die Tür.
Ich ging nach unten. Die Küche befand sich hinter dem Speisesaal. Der Korridor verband unser Gebäude mit dem von nebenan, in dem die Schule für die Jungen untergebracht war.
In der Küche herrschte hektische Betriebsamkeit – eifrig wuselten unsere Mütter umher, allesamt in langen Kleidern und den identischen, zu strengen Knoten im
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