So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
brachte, und fragte mich, was sie wohl schrieb.
In Zeitlupe lehnte ich mich mit der Stirn an die Wand, ohne dass sie es bemerkte, und begann wie üblich meine Zungenspitze an die Wand zu pressen. Wenn man es lange genug machte, löste sich die Farbe. Die kleinen weißen Markierungen im moosgrünen Anstrich zeigten mir, wie groß ich mittlerweile geworden war. Unglaublich, wie sehr ich gewachsen war, seit ich zum ersten Mal an dieser Wand geleckt hatte. Allerdings deprimierte mich der Anblick. Dreißig Zentimeter später, und nichts hatte sich geändert.
Mit dem Lecken hatte ich angefangen, als ich ungefähr neun gewesen war. Bis dahin waren Miss Fowler und ich gut miteinander ausgekommen. Ich war klug, hatte eine rasche Auffassungsgabe und war immer bester Laune, eine perfekte Schülerin. Manchmal fragte sie mich sogar, ob ich beim Mittagessen neben ihr sitzen wollte, und das war keineswegs als Bestrafung gemeint. Bald darauf aber war es vorbei. Bei einen Ausflug mit dem Bus, als wir an einer Lesung des Mahabharata teilnehmen sollten, erwischte sie mich dabei, wie ich unanständige Bilder in ein selbst gebasteltes Heft zeichnete: einen Esel, der Pipi auf Mrs Gentles Kopf machte; einen Räuber, der Mr Baker den Schniedel abhackte, und ähnlichen Unsinn. Miss Fowler nahm mir das Heft weg, zerrte mich durch den Bus hinter sich her, schubste mich auf einen Sitz, setzte sich neben mich und blätterte langsam die Bilder durch. Danach fand ich sie nicht mehr so witzig. Obwohl mich Joanna und Megan dazu angestiftet hatten, nahm ich die Schuld allein auf mich. Seither sah mich Miss Fowler mit anderen Augen: als verdorbenes Stück, das einen schlechten Einfluss auf die anderen Mädchen ausübte. Es sah ganz so aus, als müsste ich noch jede Menge Waschgänge im Ganges absolvieren. Seit diesem Tag verabscheute sie mich und witterte hinter allem, was ich tat, ein unlauteres Motiv. Und somit war ich Teil ihrer freudlosen Büroeinrichtung geworden.
Im Messing der Türklinke spiegelte sich das Gemälde von Masaccio, das über dem Kaminsims hing – überall im Gebäude hingen solche Bilder, ebenso wie in den meisten unserer Häuser, wahrscheinlich mit der Absicht, unsere Gedanken auf das Göttliche zu lenken. Es spielte keine Rolle, welcher Religion jemand angehörte oder angehört hatte. In der Organisation waren Christen, Juden, Hindus, und so weiter. Alle meditierten sie, um ins Nirwana zu kommen. Soweit ich verstand, bediente sich die Organisation bei allen Religionen. Mit der Bibel hatten wir lesen gelernt – sie war voller kurzer, einfacher Wörter –, wobei auf Himmel und Hölle nicht weiter eingegangen wurde. Von Ramakrishna konnten sie nicht genug bekommen, aber Megan und ich hatten nur zufällig herausgefunden, was es mit dem Kamasutra auf sich hatte. Jesus, Buddha und die anderen wurden gutgeheißen, doch blieb nie Zeit, zu ihnen zu beten oder sie sonst irgendwie zu würdigen, da die Organisation einen rund um die Uhr beschäftigt hielt, während der Woche ebenso wie an den Wochenenden. Theoretisch war alles erlaubt, was Erhabenheit in die Gedanken brachte. Renaissancegemälde waren der letzte Schrei. So wie Laura-Ashley-Tapeten.
Das Bild in Miss Fowlers Büro zeigte die Jungfrau Maria, die in einem blauen Kleid auf einer Art Terrasse saß, zusammen mit einem rosa gewandeten Engel, der zu nörgeln schien. Maria sah aus, als hätte sie genug davon. »Schluss jetzt, Engel«, schien sie zu sagen. »Ich tue, was ich kann, und jetzt lass mich in Ruhe.« Dem Engel jedoch schien das völlig gleichgültig zu sein. Er hielt den Zeigefinger auf Maria gerichtet und sah sie vorwurfsvoll an. Im Hintergrund sah man ein paar Leute, die ein elendes, zerlumptes Paar vor sich hertrieben, die aussahen, als steckten sie in Schwierigkeiten. Die Blumen im Vordergrund hatte ich Dutzende von Malen gezählt, ohne je auf dieselbe Zahl zu kommen. Dreihundert und ein paar Zerquetschte.
Ich hasste das Gemälde.
Plötzlich hielt Miss Fowler inne. Eilig zog ich meine Zunge wieder ein. Der Gas-Kaminofen knisterte leise und gab das gewohnte asthmatische Zischen von sich. Ich hörte die anderen unten im Speisesaal. Kein Wort fiel, nur das leise Klappern von Messern und Gabeln drang an meine Ohren. Mein rechtes Bein war völlig taub geworden. Ich verlagerte mein Gewicht und schüttelte es. Die Glöckchen an meinem Fußgelenk klingelten.
»Wag es nicht, dich zu rühren!« Ihre eisige Stimme klang, als hätte sie nur darauf gewartet. »So
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