Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
dem Gesicht geschnitten war, bis auf Haar- und Augenfarbe, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Er ertappte mich dabei, wie ich ihn anstarrte.
    »Entschuldigung«, sagte ich, »aber wenn ich dich sehe … fühle ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Du siehst deinem Vater so ähnlich.«
    »Na, wunderbar!«, konterte er sarkastisch. O ja, hätte ich am liebsten gesagt. Wunderbar, absolut wunderbar. Wart’s nur ab.
    »Wie alt bist du, Cameron?«, fragte ich stattdessen.
    »Fast sechzehn.«
    Das bedeutete, dass Megan bei seiner Geburt zweiundzwanzig gewesen sein musste.
    »Wo wohnst du? Und wo gehst du zur Schule?«
    Er hatte eine Flasche Bier in der Hand, die er mit knappen, geschickten Bewegungen hin und her drehte. Dieser Bursche hatte es drauf, ganz eindeutig.
    »St.   Augustine’s, aber wir wohnen in Chiswick.«
    »Was?«, rief ich. »Sie schicken dich nicht im Ernst dorthin, oder?«
    Er lachte. »Wieso sagen Sie das?« Der Junge hatte keine Ahnung. In diesem Augenblick gesellte sich das Mädchen vom Klavier zu uns, das mich die ganze Zeit angestarrt hatte. Wieder registrierte ich mit Staunen, wie sehr mich diese Neuigkeit schockierte. Wie konnten sie mir das antun, uns allen, den Leuten, die an diesem Ort so sehr gelitten hatten? Wie konnte Megan so etwas tun?
    »Und du?«, fragte ich das Mädchen, »auf welche Schule gehst du?« Aber musste ich diese Frage einem Mädchen, das Lakshmi hieß, überhaupt stellen?
    »Auf dieselbe«, erwiderte sie grinsend, als wäre das hier ein ulkiges Spiel.
    »Und wie gefällt …« Ich hatte die Worte seit so vielen Jahren nicht mehr ausgesprochen, dass sich meine Zunge staubtrocken anfühlte, als ich mich Cameron zuwandte. »Wie gefällt es dir in St.   Augustine’s?«
    »Es ist ganz okay.«
    Okay? Okay?
    »Ehrlich?«, bohrte ich nach und suchte sein Gesicht nach den verräterischen Anzeichen für eine Lüge ab, konnte jedoch keine entdecken. »Was ist mit dir, Lakshmi?« Ich wandte mich an das Mädchen.
    »Also, mir gefällt es ausgesprochen gut dort«, antwortete sie mit dieser unangemessenen Reife. Vielleicht war sie ja tatsächlich bereits fünfzig und lediglich in die Hülle eines Kindes geschlüpft – als Strafe für irgendein schreckliches karmisches Verbrechen. Megan gesellte sich zu uns und zerzauste ihr mit einer beiläufig-liebevollen Geste das Haar.
    »Sie ist eine erstklassige Schülerin!«, erklärte sie. »Eine der besten in meiner Klasse!«
    »Deine Klasse? Du unterrichtest dort?«, fragte ich verblüfft.
    Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Wut über ihre Schwäche starrte ich Megan an. Nicht zu glauben. Sie war doch immer eine Rebellin gewesen. Hatte alles, was wir erlebt hatten, denn keinerlei Bedeutung für sie? Unterschieden sich unsere Erfahrungen so dramatisch voneinander? Wie hatte sie sich mit dem Feind verbünden können?
    »Mittlerweile ist alles ganz anders, Caroline. Seit Mr   Wapinski die Leitung abgegeben hat. Die Schule hat sich von Grund auf verändert. Du würdest sie nicht mehr wiedererkennen.«
    Ich starrte sie finster an. Als rechtfertige die Tatsache, dass die Schule anders war als früher, alles, was dort geschehen war. Als zähle die Vergangenheit nicht. Am liebsten hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst. Aber wir befanden uns auf dünnem Eis. Ich musste das Thema wechseln. Sofort.
    Das Mädchen legte den Arm um Megan und schmiegte sich ohne jede Scheu an sie, wie ein Kind an seine Mutter. Genau das war der Knackpunkt an dieser Schule: Ein Lehrer begleitete die Kinder von ihrem vierten bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr und wurde damit zu einer Aufsichtsperson, zu einer Art Elternersatz. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass ihre Rolle einflussreicher und bedeutender war als die der eigentlichen Eltern. Damit war es eine reine Glückssache, welchen Lehrer man zugeteilt bekam. Oder eben Pech.
    »Tja«, sagte ich zu den Kindern, um ihren heiteren Eierkuchenfrieden ein wenig ins Wanken zu bringen. »Und müsst ihr immer noch so viel singen?«
    »Ja, müssen wir«, antwortete Cameron, was, wie ich seinem Tonfall entnahm, nicht zu seinen Lieblingsaktivitäten zählte.
    »Immer noch dieses alte Pull out the Golden Stopper ?«
    In seiner grenzenlosen Selbstüberschätzung hatte der Whopper sich für einen großen Komponisten gehalten und die Upanishaden musikalisch umgesetzt. Wobei ich den Begriff »Musik« hier in sehr weitem Sinne verwende. Und wir Idioten hatten diese Werke in aller Öffentlichkeit singen

Weitere Kostenlose Bücher