So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
ich mich auf dünnem Eis bewegte, verkniff ich mir weitere Fragen über sie.
»Aber wieso bist du noch dabei, Megan?«, erkundigte ich mich stattdessen. »Hast du nie den Drang verspürt, eigenständig zu denken und herauszufinden, woran du wirklich glaubst?«
Ich hätte es wissen müssen. Megan war noch nie sonderlich neugierig gewesen – pfiffig und mit einer raschen Auffassungsgabe, ja, aber nicht neugierig. Nach einigen weiteren Gläsern war ich bereit, das nächste Thema anzugehen, das mir unter den Nägeln brannte.
»Also …« Ich musste es tun, sonst würde die Frage unausgesprochen in der Luft hängen, und offen gestanden verspürte ich nach fünfundzwanzig Jahren das erste Mal ernsthaft den Drang, herauszufinden, ob sie noch lebten. Vielleicht weil die einzigen Menschen vor mir saßen, die es mir sagen konnten.
»Sind meine Eltern auch noch dabei?«
Megan nickte. »Ja. Zumindest deine Mutter …«
Was für eine blödsinnige Frage. Als könnten sie ohne die Organisation leben. Als hätten sie jemals den Mut gehabt, ihr den Rücken zu kehren und auszusteigen. Ich hatte genug gehört.
»Aber wusstest du denn gar nicht, dass dein Vater gestorben ist, Caroline?«
Ob ich es nicht wusste? Wie um alles in der Welt hätte ich davon erfahren sollen?
Mein Vater war tot. Mir wurde bewusst, dass die Worte etwas in mir auslösen sollten, doch sie taten es nicht. Für mich war er bereits vor langer, langer Zeit gestorben. Ich empfand nichts dabei, rein gar nichts. Tja, nettes Analysematerial, was, Lorrie Fischer?
»Wann ist er gestorben?«
»Erst vor Kurzem. Im Sommer.«
»Und woran?«
»Er hatte einen Herzinfarkt. Es tut mir sehr leid, Caroline.«
»Wieso? Mochtest du ihn?«
Meine Herzlosigkeit schockierte sie, das sah ich ihr an.
»Ich sage nur, dass es mir leidtut.«
»Muss es nicht. Mir tut es nämlich nicht leid.«
Ich trank ein Glas Wein nach dem anderen und spürte kurz darauf, wie ich mich entspannte, lässiger wurde, unbeschwerter, weniger hektisch. Irgendwie hatte der Tod wohl etwas Befreiendes an sich.
Vielleicht liegt es ja in der Natur von Wiedervereinigungen, doch allmählich fühlte ich mich wieder wie dreizehn. Ich sah mich um. Marcus und seine Frau waren mittlerweile zu uns gestoßen. Marcus, den ich an der U-Bahnhaltestelle Gloucester Road auf den Mund geküsst hatte, bis es sich etwas unangenehm angefühlt hatte – das Gefühl seiner trockenen, rissigen Lippen hatte mich ein wenig abgetörnt. Und als ich ihn nun ansah, fiel mir auf, dass sie auch heute noch leicht trocken aussahen. Seine Frau hatte eine laute, plumpe Fröhlichkeit an sich, die ihr etwas Reizendes und zugleich Dümmliches verlieh. Ich konnte mich noch aus der Schulzeit an sie erinnern – eine taube Nuss, die ein paar Klassen unter mir gewesen war. Eines seiner Kinder, eine düster dreinblickende Achtjährige mit der Altklugheit einer Fünfzigjährigen namens Lakshmi – bitte! –, hatte sich ans Klavier gesetzt und schlug mit verblüffender Munterkeit in die Tasten, während die Erwachsenen zu singen begannen. Der Wein floss in Strömen.
Als ich mich umsah, fiel mir auf, dass die Mitglieder der Organisation bei Weitem nicht so gut aussahen wie wir Flüchtlinge – unübersehbar das Resultat ihrer Ablehnung gegenüber der materialistisch orientierten Welt mit all ihrem Luxus und ihren Eitelkeiten. Wie beruhigend. Sie waren ungeschminkt und ohne jeden Chic gekleidet, die Haut faltig, das Haar an den Ansätzen grau. Ich hingegen freute mich über mein eigenes Äußeres, das dank Cremes, Lotionen und allerlei anderen Hilfsmitteln, die die oberflächliche Welt zu bieten hatte, auffallend gepflegt wirkte.
Je mehr ich trank, umso gereizter wurde ich. Ich unterhielt mich mit Amy, da es mir noch immer nicht sicher erschien, mich in Megans Nähe zu begeben. Zu groß war mein Bedürfnis, sie an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Währenddessen hatte ich die ganze Zeit über meine Antennen ausgefahren und auf Empfang gestellt. Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, wo Mr Steinberg sich gerade aufhielt. Vielleicht fühlte er sich ja ein wenig unwohl, inmitten von uns einstigen Schulmädchen, denn Joe und er standen am Kamin und unterhielten sich über Football, angenehm sicheres Männerterrain also. Trotzdem lauschten die beiden gespannt – ich konnte es förmlich sehen, als wären ihre Ohren auf Elefantengröße angewachsen.
Ich konnte den Blick nicht von Mr Steinbergs Sohn wenden, der seinem Vater wie aus
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