So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
sagen können!«, stieß ich hitzig hervor und wandte mich ihm zu.
Die Heftigkeit meiner Reaktion schien ihn zu erstaunen. Er betrachtete mich forschend. Ich sah seine leuchtend blauen Augen hinter den Brillengläsern. Er blinzelte kurz. Doch es gelang mir nicht, seinem Blick lange standzuhalten. Es war, als blicke er geradewegs in meine Seele.
»Ich hätte tatsächlich etwas sagen müssen. Du hast völlig recht.«
Gut. Ich war froh, dass er das gesagt hatte.
»Hmm«, fuhr er fort. »Du hast keine allzu hohe Meinung von mir, was?«
»Welche Rolle spielt es, wie ich über Sie denke?«, fragte ich. Er blickte wieder aufs Meer hinaus und schob sich die Brille auf der Nase hoch. Schweigend saßen wir eine Weile in der klammen Stille.
»Du hast immer nachvollziehbare Fragen gestellt«, sagte er. »Deine Fragen haben mir sehr gefehlt, nachdem du weg warst.«
Er hatte mich vermisst. Musik in meinen Ohren.
»Wohin bist du so abrupt verschwunden, Caroline? Man hat uns gesagt, du wärst nach Schottland gegangen.«
»Tja, wenn sie das allen erzählt haben, wird es wohl so gewesen sein.«
»Und war es so?«
»Gott bewahre, dass Sie etwas infrage stellen, das man Ihnen vorsetzt, Steinberg.«
Er lachte. »Gott bewahre. Aber ich tue es wohl trotzdem.«
»Vorsicht!«, warnte ich und wagte ein Lächeln. »Hier lauert die Katastrophe!«
Seufzend verlagerte er sein Gewicht auf dem Felsbrocken. »Tja, vielleicht, nur ganz vielleicht, lernt man aus der einen oder anderen ›Katastrophe‹ ja etwas.«
Ich war mir nicht ganz sicher, was er damit meinte, aber mein Herz begann so heftig zu pochen, dass er es bestimmt hören konnte.
In dieser Sekunde ließ ein alles erschütterndes Donnergrollen den Himmel erbeben, und ein leuchtend gelber Blitz fuhr zuckend geradewegs ins Meer. Mit einem lächerlich mädchenhaften Aufschrei packte ich instinktiv seinen Arm, doch er war ebenso erschrocken wie ich selbst, hatte schützend den Arm um mich gelegt und hielt mein Handgelenk umfasst.
»Wow!«, sagten wir wie aus einem Munde. Die Kraft der Elemente war wahrlich eindrucksvoll. Wir blieben stocksteif sitzen, völlig fasziniert von dem strömenden Regen, Seite an Seite, die zitternde Tilly neben mir.
»Wie vergilisch«, sagte er schließlich.
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich leise, den Blick stur geradeaus gerichtet, um den Moment so lange bestehen zu lassen, wie ich nur konnte.
» Die Aeneis . Erinnerst du dich nicht an Dido und Aeneas?«
O ja, das tat ich. Ich erinnerte mich an all seine Geschichten. Dido und Aeneas wurden von Venus verkuppelt. Sie sorgte dafür, dass Dido sich in ihn verliebte, als sie sich vor einem Sturm in eine Höhle flüchteten.
Ich lächelte. Dido war immerhin die schöne karthagische Königin und Aeneas ein trojanischer Held. Natürlich endete das Ganze tragisch, doch allein durch die Erwähnung der beiden griechischen Liebenden hatte Steinberg, bewusst oder unbewusst, die Stimmung aufgeheizt. Und obwohl ich weiter auf das raue Meer starrte, konzentrierte ich mich mit jeder Faser meines Körpers auf die sanfte Berührung unserer Arme.
»Erinnern Sie sich …«, fragte ich, »… wie wir uns damals die Orestie angesehen haben?« Er schwieg. Vielleicht hatte er mich ja nicht gehört.
»Ja, ich erinnere mich«, antwortete er schließlich so leise, dass ich mich nicht zu rühren wagte.
Ich wandte mich im selben Augenblick um wie er, und wir waren einander so nahe, dass ich die Wärme seines Atems auf meiner Wange spüren konnte. Und diesmal hielt ich seinem Blick stand.
»Ich war in dich verliebt, Steinberg.«
»Wirklich?«, flüsterte er. »Ich dachte, du warst in Marcus verliebt.«
»O nein«, sagte ich. »Das war doch nur eine alberne Schulmädchenschwärmerei.«
Ich hasse es, wenn zwei Menschen, die ihre Partner betrogen haben, später sagen: »Wir konnten einfach nicht anders. Es war stärker als wir. Wir hatte keine andere Wahl.« Das stimmt nicht. Wir sind nicht wie Tiere. Wir haben sehr wohl eine Wahl. Immer. Und Steinberg und ich trafen die unsere.
Behutsam hob er die Hand und strich mir eine feuchte Strähne aus der Stirn, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von mir zu lösen. Es gab nichts mehr zu verbergen. Er hatte mich erobert. Ich gehörte ihm. Zärtlich hob er mein Kinn an und legte seine Lippen auf meinen Mund. Der Kuss begann ganz vorsichtig, voller Süße, ehe die Sehnsucht der vergangenen Jahrzehnte Besitz von uns ergriff und ihn in eine Berührung voll leidenschaftlicher
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