So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
und kälter als sonst. Normalerweise dauerte es mehrere Tage, bis er zu seiner gewohnten frommen Eisigkeit zurückgekehrt war.
Wir alle mussten Wochenenden oder gar ganze Wochen in Riversmead, dem Hauptquartier der Organisation auf dem Land, zubringen. In aller Regel fuhr die ganze Klasse hin, was uns einen Eindruck davon vermittelte, wie es wäre, wenn St. Augustine’s als Internat geführt werden würde. Die Mädchen mussten um fünf Uhr aufstehen und den ganzen Tag lang Essen zubereiten, servieren, abwaschen, die Kleider des männlichen Lehrkörpers waschen, die Steinböden mit Milch schrubben, putzen, aufräumen, beten, meditieren und Sanskrit lernen. Um elf Uhr abends war Schlafenszeit. Der Whopper hatte nicht allzu viel für Schlaf übrig, sechs Stunden genügten seiner Meinung nach vollauf. Außerdem litt man pausenlos Hunger, und es gab immer irgendetwas zu tun, bevor man endlich etwas essen durfte – und auch dann gab es nur trockenes Brot, Früchte und das übliche Hasenfutter aus dem Garten. Manchmal wurden die Frauen angewiesen, in ihren langen Kleidern auf Bäume zu klettern und den ganzen Tag lang Obst zu ernten. Ich war mir nicht ganz sicher, was die Männer eigentlich taten. Schätzungsweise gingen sie in einem der anderen Räume ihrer spirituellen Bildung nach.
Da mein Vater übers Wochenende in Riversmead war, standen mir zwei Tage allein mit meiner Mutter bevor. Ich war gerade nach einem weiteren wortlosen Vormittag aus der Schule zurückgekommen, lag auf dem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Allerdings musste ich auf der Seite liegen, da die blauen Flecken immer noch zu sehr schmerzten. Zwei der Wunden hatten sich entzündet und zogen sich in eitrigen, leuchtend grün verfärbten Striemen über meinen Rücken. Wenn ich mich vor dem Spiegel umdrehte, konnte ich meinen geschundenen Rücken sehen, der aussah, als gehöre er einem seltenen Tier.
Ich beobachtete eine Spinne, die sich in der Ecke über meinem Bett häuslich eingerichtet hatte, und wünschte, ich wäre selbst eine Spinne. Irgendwann gab ich meinem neuen Haustier einen Namen – Thomas, nach meinem toten Bruder. Seit Jahren hatte keiner mehr in diesem Haus Thomas erwähnt. Es war, als hätte er niemals gelebt. Doch ich dachte häufig an ihn und malte mir aus, wie er heute wäre – stark und tapfer. Ein Bruder, der nicht zuließ, dass irgendwelche schlimmen Dinge passierten.
Meine Mutter rief mich zum Mittagessen. Sie wusste, dass ich nichts aß, deshalb verstand ich nicht, weshalb sie sich überhaupt die Mühe machte. Ich rührte mich nicht. Nach einer Weile hörte ich sie die Treppe heraufkommen und die Tür zu meinem Zimmer öffnen.
»Caroline, du hast doch gehört, dass ich dich gerufen habe. Komm nach unten! Mittagessen.«
Ich schwang die Beine aus dem Bett und folgte ihr, noch immer in meiner grässlichen Schuluniform, weil ich keine Lust gehabt hatte, mich umzuziehen.
Also saß ich vor einer Schale Müsli und lauschte Mum, die neben mir saß und kaute. Es klang widerwärtig.
»Iss, bitte«, sagte sie.
Ich starrte die Schale an. Schließlich legte sie ihren Löffel weg.
»Wieso tust du das, Caroline? Ich verstehe dich einfach nicht.«
Ich schwieg beharrlich.
»Dabei müsstest du dir das Leben nicht so schwermachen. Wenn du bloß tun würdest, was man dir sagt, wäre alles so viel einfacher. Iss jetzt!«
Ich sah sie an. Sie war wie eine Fremde für mich.
»Sieh mich nicht so an!«, sagte sie. Ich glaube, ich machte ihr Angst. Sie schob ihre Schale beiseite, stand auf, trat ans Fenster und blickte in den Garten hinaus. Ihr formloser lila Cordrock schlug Falten um ihr Hinterteil herum.
»Ich gebe dir eine letzte Chance!«, sagte sie und drehte sich um. »Iss jetzt!«
Wir starrten einander an. Ihre Brillengläser waren verschmiert, ihr Haar strohig und ungepflegt. Sie sah fürchterlich aus.
»Ich rufe deinen Vater an … ich rufe …«
Unvermittelt begann sie zu weinen. Es war kein melodramatischer Ausbruch oder so, sondern lediglich stille, unterdrückte Tränen. Sie ballte die Faust und presste sie sich auf die Lippen.
»Wieso bist du nur so? Irgendetwas Schlimmes muss ich in meinem letzten Leben getan haben, dass ich so etwas verdiene.« Sie redete nicht mit mir, sondern richtete ihre Worte an den Garten.
Schließlich schob sie die Hand in die Tasche ihrer Strickjacke, zog ein gräulich verfärbtes Taschentuch heraus und putzte sich geräuschvoll wie ein Mann die Nase. Dann trat sie ans Telefon und nahm
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