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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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ich sie im Stich ließ. Aber dafür war es jetzt zu spät.
    Ich trat an die Bahnsteigkante, als das Donnern anschwoll, legte die Aktentasche hinter mich auf den Boden, den Brief obenauf, damit ihn später jemand fand. Ich starrte auf die dunklen Gleise vor mir, deren Stromleitungen mittlerweile surrten. Meine Knie begannen zu zittern, als das Röhren immer lauter und lauter wurde. Nur wenige Zentimeter trennten meine Füße vom Abgrund. Ich würde nicht einmal springen müssen, sondern mich lediglich nach vorn fallen lassen. Ich war zu neunundneunzig Prozent sicher, dass der Zug auf diesem Gleis einfahren würde. Noch nie zuvor hatte ich mich so lebendig gefühlt. Sieh nur, was du getan hast, Fowler! Sieh dir an, was du getan hast. Ich begann auf den Fußballen zu wippen, als hinter mir eine Stimme ertönte.
    »Caroline! Caroline!«, rief der Mann über den Lärm hinweg.
    Mit hämmerndem Herzen wandte ich mich um, gerade als der Zug hereingezischt kam.
    Und da – mein Vater, der in seinem beigen Regenmantel auf mich zukam. »Caroline!«, rief er fröhlich und klemmte sich seine Hermes-Trismegistus-Ausgabe unter den Arm. »Ich dachte immer, du fährst mit der Picadilly.«
    »Sollen wir ein bisschen Klavier spielen?«, schlug meine Mutter etwa eine Woche später fröhlich vor. Aber ihre Fröhlichkeit war nicht echt. Sie mochte keine Szenen.
    Sie spülte das Geschirr ab, während ich abtrocknete. Wie alle anderen besaßen auch wir dieses blau-weiß gemusterte Geschirr – es schien fast, als sei eine ganze Wagenladung davon ausschließlich für die Mitglieder der Organisation hergestellt worden. Ich starrte den Teller in meiner Hand an und betrachtete die Motive: ein Baum, ein paar Vögel, ein Boot und eine Brücke – eine trügerisch glückliche kleine Parallelwelt auf Porzellan, mit deren Betrachtung ich sehr viel Zeit zubrachte, wenn ich vor meinem vollen Teller saß.
    »Na, Caroline? Was hältst du davon?«
    Auch sie tat so, als gehe meine Wortlosigkeit spurlos an ihr vorüber. Seit ich nicht mehr sprach, schien das Leben so viel einfacher für alle geworden zu sein. Mittlerweile schwieg ich seit mehreren Wochen. Zumindest seit der Szene in meinem Zimmer. In unserem Haus gab es keine Szenen. In unserem Haus gab es überhaupt nichts. Keinen Fernseher, kein Radio, keinen Kühlschrank, keine Waschmaschine. Der Whopper hatte nicht viel für Elektrizität übrig. Aber ein Klavier, das hatten wir.
    »Ein Mozart-Duett vielleicht?«, fuhr sie fort, als hätte ich »Super, genau das wünsche ich mir von Herzen« geantwortet.
    Mozart war das Allergrößte. Diese Parole hatte der Whopper ausgegeben, also war es auch so.
    Aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Wenn man sich nicht bewegt wird man seltsamerweise mit der Zeit unsichtbar.
    »Oder sollen wir lieber in den Garten gehen, was meinst du?« Sie sagte es, als erwarte sie nicht ernsthaft eine Antwort von mir, beinahe so, als rede sie mit einem Baby oder so. Manchmal ertappte ich sie dabei, dass sie mich merkwürdig ansah, obwohl sie sich scheinbar ohne jede Mühe an mein verändertes Verhalten gewöhnt hatte. Mein Schlafwandeln war mittlerweile zur Routine geworden. Meist stieg ich aus dem Bett und wachte auf, wenn sie mich wieder hineinlegte, was sie auf eine sehr nüchterne Art tat, niemals liebevoll. Sie machte sich nie die Mühe, behutsam die Decke hochzuziehen und festzustecken, damit ich es schön gemütlich hatte.
    Meine Mutter öffnete die Hintertür, und ich hörte sie seufzen, ehe sie nach draußen trat. Die warme Luft strömte ins eiskalte Haus. Ich spürte sie auf der Haut. Seit dem Tag, als ich nicht dazu gekommen war, vor die U-Bahn zu springen, fiel es mir besonders schwer, etwas zu fühlen. Natürlich könnte ich noch einen Versuch starten, doch das erforderte ein gehöriges Maß an Energie, die ich allem Anschein nach nicht mehr aufbrachte. Miss Fowler hatte gewonnen. Sie hatte im Angesicht meiner Niederlage triumphiert. Ihre Zähne traten nun regelmäßig in Erscheinung, denn sie lächelte, wann immer sie ein Zimmer betrat. Selbst mein Hass auf sie verschwamm in einer Blase der Gleichgültigkeit. Hass verlangte Leidenschaft – eine Gefühlsregung, zu der ich nicht länger imstande war.
    Die Tatsache, dass ich noch lebte, obwohl ich längst tot sein sollte, brachte mich auf eine langsame, qualvolle Art um. Ich fühlte mich, als würde ich das Leben eines anderen Menschen führen, als sei mein wahres Ich gestorben und in eine bessere Welt entschwunden.

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