So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Aktentaschen und Hüten aus der Innenstadt ausgestiegen, während sich die Waggons nun mit Touristen und hübsch zurechtgemachten Menschen auf dem Weg zu ihren abendlichen Aktivitäten füllten. Mit einem Mal roch es nicht länger nach Schweiß, Käsefüßen und Kaffee, sondern nach Parfum, Lippenstift und chemischer Reinigung. Zischend öffneten sich die Türen, und eine Ladung Fahrgäste quoll herein. Ich stand auf, um einer Dame meinen Sitzplatz zu überlassen, und lehnte mich gegen die Glastrennwand. Mein Hinterteil schmerzte immer noch ein bisschen, weil einige Krusten abgegangen waren, doch die blauen Flecke waren größtenteils abgeklungen, so dass es mir nichts ausmachte, zu stehen.
Ein paar Schüler starrten mich an, nicht unfreundlich, aber trotzdem. Ich war es leid, dass die Leute mich ständig anstarrten, und wünschte, Megan wäre hier. Ich hasste es, pausenlos wegen meiner Uniform die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Meinen Hut setzte ich grundsätzlich nicht auf. Zu Beginn jedes Schuljahrs gingen Megan und ich zum Bahnhof South Kensington und legten unsere Hüte auf die Gleise. Dann sahen wir genüsslich zu, wie der Zug sie in Stücke riss, wohl wissend, dass es eine halbe Ewigkeit dauern würde, neue zu bestellen. Die Blazer waren schon schlimm genug, aber nichts im Vergleich zu unseren Umhängen. Der Winter war eine einzige Peinlichkeit – wir fielen derart auf, dass wir uns ebenso gut Sirenen auf die Köpfe binden könnten.
Mit Megan zusammen war das Ganze erträglich, aber vielleicht bekamen wir es auch nur nicht so mit, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt waren. Die Beweise für unsere Aktivitäten waren überall in der U-Bahn zu sehen. So bearbeiteten wir systematisch die Hinweisschilder auf den Trenntüren zwischen den Abteilen mit unseren Teppichmessern – beispielsweise machten wir aus »Bitte älteren Fahrgästen Plätze überlassen« kurzerhand ein »Bitte ältere Fahrgäste platzen lassen«. Für uns war es das Allergrößte seit Erfindung des Schnittbrots, und damit kannten wir uns aus, schließlich gab es bei uns nur dieses widerwärtige, staubtrockene Vollkornbrot, das sich beim besten Willen nicht in Scheiben schneiden ließ.
Wir konnten auch an keinem Süßigkeitenautomaten vorbeigehen, ohne an sämtlichen Hebeln zu ziehen. Einmal, als wir etwa acht Jahre waren, hatte ich gezogen, woraufhin prompt ein Schokoriegel herausgefallen war. Wieder und wieder hatten wir daran gezerrt und waren am Ende mit siebenundfünfzig Riegeln nach Hause gegangen. Einen hatten wir ihrem Bruder verkauft – einen besonders ekligen mit Trockenfrüchten und Nüssen.
Megan und ich hatten ein Spiel erfunden, von dem wir niemandem etwas verrieten. Am besten funktionierte es in einem der endlos langen Tunnels wie dem in Richtung Bank zwischen den Stationen Euston und Camden Town. Erstaunlicherweise war es am allerbesten, wenn die U-Bahn richtig voll war – dann bemerkte einen nämlich niemand. Zuerst musste man sämtliche Spangen und Zopfbänder aus den Haaren ziehen, dann die Tür aufmachen, die die einzelnen Waggons miteinander verband, und sich auf die schmale silberne Plattform stellen. Dann warteten wir, bis der Zug richtig Fahrt aufgenommen hatte. Abwechselnd halfen wir uns mit einer Räuberleiter hoch, um über die Kante des Waggondachs zu spähen und uns den Fahrtwind ins Gesicht blasen zu lassen. Dabei konnte man ungeniert aus Leibeskräften brüllen, ohne dass einen jemand hörte. Seit wir sieben waren, surften wir regelmäßig auf diese Art die Northern Line entlang.
Aber all das war inzwischen bedeutungslos.
Miss Fowler hatte den Krieg gewonnen. Ich war verstummt. Seit Wochen hatte ich mit niemandem ein Wort gewechselt – ich hatte eine Mauer um mich errichtet, damit nichts zu mir durch- oder von mir nach außen dringen konnte. Trotz der drohenden Strafen versuchte Megan beharrlich, Kontakt mit mir aufzunehmen. Einmal hatte Miss Fowler sie erwischt, wie sie mir mit dem Fuß einen Zettel zuschob, und sie mit nach draußen gezerrt. Zur Strafe musste sie stundenlang vedische Sutras abschreiben. Trotzdem tat Megan alles, um mich zum Lachen zu bringen, indem sie wüste Grimassen schnitt und sonstige Scherze machte. Sie verstand einfach nicht, dass kein Lachen mehr in mir war, das über meine Lippen dringen konnte. Auch Miss Fowler versuchte, die Mauer zu überwinden, indem sie mich zum Essen zwang. Sie stellte einen Teller mit Brot und Käse vor mich hin oder nahm meinen Kopf, legte ihn in
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