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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Meinem Empfinden nach hatte mein Vater mich um meinen rechtmäßigen Tod betrogen. Seit dem Tag, als ich den Absprung ins Nichts versäumt hatte, trieb ich haltlos durchs Leben, beobachtete alles, was um mich herum vorging, ohne jemals daran teilzuhaben. Ich war geschwächt und antriebslos, weil ich nichts aß. Manchmal fühlte es sich an, als hätte sich mein Mund von innen versiegelt. Seit so langer Zeit war nichts zwischen meinen Lippen hindurchgeschlüpft, bis auf den Strohhalm, durch den ich ein paar Schlucke Wasser trank.
    »Caroline!«, hörte ich Mum aus dem Garten rufen. Wie ein Roboter stellte ich den Teller beiseite und folgte ihrer Stimme. Offenbar war mittlerweile der Frühling ausgebrochen, denn überall dort, wo bis vor Kurzem nichts zu sehen gewesen war, spross nun üppiges Grün, und die Häuser der Nachbarn waren hinter blühenden Ästen verschwunden. Obwohl wir nur selten mit ihnen redeten, weil sie nicht der Organisation angehörten, erfüllte mich bei dem Anblick tiefe Traurigkeit. Dass ich nicht länger ihre Häuser erkennen konnte, bedeutete, dass mir der Blick in ihre normale Welt verwehrt blieb: Arsenal-Fähnchen an den Fenstern, Jeans und Rüschenhöschen auf der Wäscheleine, das bläuliche Flackern des Fernsehers, laute Popmusik aus einem der geöffneten Fenster, das tröstliche Rumpeln der Waschmaschine. All das vermisste ich schon jetzt. Es machte mich traurig, dass ich ab sofort in unserem Haus eingesperrt sein würde wie in einem Kokon, von ihnen abgeschnitten, diesen herrlich normalen Fremden. Wenigstens gab es noch die Lücke im Zaun, durch die ich Carol Watson in ihrem rosa Morgenrock beim Wäscheaufhängen beobachten konnte, auch wenn die Watsons ihren Garten nicht allzu häufig benutzten. Er war hoffnungslos überwuchert und diente ihnen als Halde für allen möglichen Plunder, den sie im Haus nicht gebrauchen konnten, wie ausgemusterte Lehnsessel oder durchgelegene Matratzen. Eines Tages würde ich auch einmal einen solchen Garten haben.
    Mum hatte sich hinten bei den Stachelbeersträuchern hingehockt und betrachtete irgendetwas auf dem Boden. Das Licht fiel durch die Blätter des Birnbaums und zauberte ein geflecktes Muster auf ihren Rücken.
    »Oh, Carry! Sieh nur!«
    Erstaunt horchte ich auf. Sonst nannte sie mich nie »Carry«. Wir durften keine Kosenamen verwenden. Selbst den Hungerstreikenden mussten wir Mr   Robert Sands nennen.
    Ich trat neben sie. Die Schildkröte der Patels war aus ihrem langen Winterschlaf erwacht und hatte sich in unseren Garten verirrt. Die Patels waren ein altes Ehepaar, das auf der anderen Seite von uns wohnte. Mr   Patel brachte den Großteil seiner Zeit mit der Pflege seiner Rosen zu. Eigentlich hätte ich gedacht, dass sich meine Eltern mit ihnen anfreundeten, weil sie Hindus waren und sich mit Krishna und Vishnu und all den anderen Göttern auskannten, aber, nein, sie wechselten kein Wort mit ihnen. Irgendwann einmal hatte jemand » WOG s raus!« an ihren Zaunpfosten geschmiert, woraufhin ich meinen Vater gefragt hatte, was » WOG s« bedeutete. Das Wort stehe für Western Oriental Gentleman, erklärte er. Heute allerdings, an dem Tag, als ihre Schildkröte aus dem Winterschlaf erwachte, war von den Patels nichts zu sehen.
    Ich ging neben meiner Mutter in die Hocke und begrüßte die Schildkröte, indem ich gegen ihren Panzer klopfte. Die Vorstellung, eine Schildkröte zu sein, hatte durchaus ihren Reiz – auf diese Weise konnte man sich für sechs Monate aus allem ausblenden und erst wieder herauskommen, wenn die Sonne schien und es warm war.
    »Ist sie nicht wunderschön?«, meinte sie.
    Ich nickte. Sie sah mich an. Nur wenige Zentimeter trennten uns. Ihre Brille war heruntergerutscht. Ich sah ihr an, dass sie am liebsten meine Hand genommen hätte, aber das war nicht ihre Art.
    »Hör auf damit, Caroline«, sagte sie ganz leise, als wäre sie am Ende mit ihrer Kraft. »Um Petes willen. Sag doch irgendetwas! Du bist starrköpfiger als ein Esel!«
    Ich streckte den Finger aus und wackelte damit vor der Schildkröte herum. Sie zog den Kopf ein, streckte ihn jedoch gleich darauf vorsichtig wieder heraus, um meinen Finger zu inspizieren.
    »Ich gehe rein und hole ihr ein Stück Gurke«, sagte meine Mutter und stand auf. Ihr langes selbst genähtes Kleid mit dem Blumenmuster raschelte leise, als sie durchs hohe Gras ging.
    Ich sah der Schildkröte eine Weile zu und legte meine Hand auf ihren Panzer, der sich ganz warm anfühlte. Immer wieder

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