So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
streckte sie ihre rosa Zunge heraus, die sich trocken und rau anfühlte. Aus einem der Blumenbeete pflückte ich ihr ein paar Blätter, die sie argwöhnisch beschnüffelte.
Ich hörte das Rascheln von Mums Rock.
»Nicht das, Caroline! Das darfst du ihr nicht geben!«, rief sie und kam angerannt. »Das ist Fingerhut! Er ist giftig. Wenn sie die Blätter frisst, stirbt sie.«
Ich betrachtete die unschuldig aussehenden Blätter und zerrieb sie zwischen den Fingern, ehe ich daran roch.
»Könnte man auch einen Menschen damit töten?«, fragte ich.
Ich beunruhigte Miss Fowler. In den letzten Wochen war sie nicht mehr ganz so siegesgewiss. Seit ich wieder redete, aß, manchmal sogar lächelte und meine Augen nicht länger auf den Boden geheftet waren. Sie wusste, dass es etwas mit dem Feuer zu tun hatte, das sich erneut in meinem Innern entzündet hatte. Es gefiel ihr nicht, wenn ich so war. Viel lieber hätte sie mich schweigsam und ausgemergelt gesehen – ein Paradebeispiel dafür, was aus einem wurde, wenn man böse war. Doch nun ertappte ich sie immer wieder dabei, wie sie mich argwöhnisch musterte. Den Feind im Auge behalten – so lautete das oberste Gebot. Statt also wie bisher mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke zu stehen, rief sie mich in jeder Stunde in die erste Reihe, damit sie jeden Muckser von mir mitbekam.
Was sie nicht wusste, war, dass ich einen Plan ausgeheckt hatte und nur auf die richtige Gelegenheit wartete, ihn in die Tat umzusetzen. Ich hatte die Fingerhutblätter abgezupft; jedes einzelne Blatt von einem langen Stängel. Ich würde kein Risiko eingehen. Am Wochenende hatte ich mich in meinem Zimmer verschanzt, den Stuhl unter die Türklinke geschoben und die elegant geformten Blätter auf meinem Bett ausgebreitet, genau an der Stelle, wo die Sonne durchs Fenster schien. Voller Hingabe hatte ich zugesehen, wie sie innerhalb weniger Tage ausgetrocknet waren und ihre dunkelgrüne Farbe verloren hatten. Wie leckere Kekse hatte ich sie regelmäßig gewendet, hatte daran gerochen und sie liebkost, stets darauf bedacht, Handschuhe zu tragen. Schwer vorstellbar, dass so etwas Wunderschönes so tödlich sein konnte. Als sie vollständig getrocknet waren, hatte ich sie vorsichtig zerkrümelt und bis zum letzten Fitzelchen in einen Umschlag gegeben. Dann hatte ich ein Stück Stoff in meine ausgeleierte dunkelblaue Sporthose genäht, so dass eine Art Tasche für den verschlossenen Umschlag entstand, die ich nun tagtäglich über meiner frischen Unterhose trug, während ich auf den richtigen Moment wartete. Drei geschlagene Wochen hatte ich die tödlichen Blätter stets bei mir, wo sie von der Hitze meiner sündigen Lenden erwärmt wurden. Sie hatte vollkommen recht. Ich war das personifizierte Böse. Und dabei wusste sie nicht einmal die Hälfte dessen, was hier vor sich ging.
Und dann kam die Gelegenheit. Miss Fowler verlas Sri Chabaranshas jüngste Ausführungen. Es war geradezu überlebenswichtig, sich vor der Philosophiestunde mit Hilfsmitteln wie Gummibändern, Patafix oder Klebeband einzudecken; Material, das sich für jegliche Art von Murmel- oder sonstigen Spielen eignete, um die stundenlange Tortur zu überstehen. Ich hingegen brauchte nichts. Wie üblich hatte Miss Fowler mich unmittelbar neben sich platziert, nicht einmal dreißig Zentimeter entfernt und mit dem Rücken zur Klasse, sodass außer meinen Händen so gut wie nichts von mir zu sehen war.
Eine unserer Lieblingsbeschäftigungen während der Philosophiestunde bestand darin, die lächerlichste »Beobachtung der Woche« zum Besten zu geben. Jede Woche bekamen wir eine Übungsaufgabe gestellt. Diese Woche hatte die Aufgabe gelautet, uns selbst in bestimmten Situationen zu beobachten, wenn wir gebeten wurden, etwas zu tun, das uns nicht gefiel. Sobald wir spürten, dass wir wütend wurden, mussten wir uns aus der Situation und damit vom Gefühl der Verärgerung lösen, laut aham , das Sanskrit-Wort für das Absolute, sagen und beobachten, was weiter geschah.
Kate machte den Anfang. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass ihre Hand hochschnellte. Fowler fragte sie nach ihrer Beobachtung.
Ich hörte das Scharren ihrer Stuhlbeine auf dem Boden, als sie aufstand. »Also, ich habe meiner Mutter beim Abwasch geholfen. Und eigentlich wollte ich es nicht, aber dann habe ich ganz laut aham gesagt und es eben doch getan.«
Es war eine derart jämmerliche Beobachtung, die Miss Fowler nicht einmal ansatzweise beeindruckte. Sie bleckte die
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