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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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schob seine Bhagavad Gita und die Bibel beiseite. »Du kannst das Tablett hier hinstellen.«
    Offenbar war er so daran gewöhnt, bedient zu werden, dass er nicht herübersah und nicht einmal merkte, dass ich es war. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und verließ erleichtert das Zimmer.
    Mittlerweile hatte sich Mrs   Garing, die Tierärztin der Organisation, zu Anthea Warner gesellt. »Du hättest dich anständig anziehen sollen«, herrschte sie mich an. Offenbar konnte auch sie mich nicht leiden.
    »Los, los, beeil dich. Der Tee wird kalt. Der hier muss in den Ganesha Room zu Mr   Steinberg.«
    Ich sog den Atem ein. Auf die Idee, dass auch Mr   Steinberg hier sein könnte, war ich noch gar nicht gekommen, allerdings hatte sich hier praktisch der gesamte Lehrkörper versammelt. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass mein Haar zerzaust war.
    Ich trug das Tablett nach oben, blieb vor seinem Zimmer stehen und klopfte. Keine Antwort. Also öffnete ich die Tür und ging hinein. Es war stockdunkel, die Vorhänge vorgezogen, trotzdem konnte ich ihn ausmachen. Er lag auf der mir zugewandten Seite des Doppelbettes. Ich stellte das Tablett auf den Tisch und trat ans Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen. In diesem Moment regte er sich, stützte sich auf den Ellbogen und knipste die Nachttischlampe an.
    »Danke«, sagte er schlaftrunken und fuhr sich mit einer Hand über seine Bartstoppeln – es hörte sich an, als streiche er über ein Blatt Sandpapier –, ehe er nach seiner Brille griff.
    »Hey!«, sagte er, nachdem er sie aufgesetzt hatte. »Was für eine Überraschung.«
    Ich trug das Tablett zu seinem Nachttisch.
    »Danke«, sagte er noch einmal und schob ein paar Sachen beiseite. Sein Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Er trug ein schwarzes T-Shirt. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er sah so jung aus.
    »Eine schöne Tasse Tee«, erklärte er mit betont englischem Akzent.
    Lächelnd schenkte ich ihm eine Tasse ein.
    Er sah auf seine Uhr neben dem Tablett und setzte sich vollends auf. Ich spürte, dass er mich beobachtete, und wurde nervös. Prompt fiel mir der Teelöffel aus der Hand, den ich eilig aufhob.
    »Du meine Güte«, stieß er hervor. Ich richtete mich wieder auf und stellte fest, dass er mich besorgt ansah. »Was ist denn da passiert?«
    Er deutete hinter mich, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er meinen Rücken meinte; die gelben und lila Verfärbungen, die sich fast bis zu meinem Nacken hinaufzogen.
    Er sah mich an und wartete.
    »Darf ich mal sehen?«, fragte er schließlich.
    Ich nickte und trat näher. Er roch nach Schlaf, nach Wärme. Ich drehte mich um und zog mir das Nachthemd ein Stück über die Schulter, damit er einen Blick auf meinen Rücken werfen konnte. Ich hörte, wie er scharf den Atem einsog. »Das ist … entsetzlich«, flüsterte er. »Caroline, das tut mir so leid!«
    Wie merkwürdig, dass die Leute meistens die körperlichen Anzeichen besorgniserregend fanden, wohingegen sie mir nicht weiter relevant erschienen. Mr   Steinberg wusste ganz genau, wer das getan hatte. Und er konnte nichts dagegen sagen. In der Schule bezogen Kinder pausenlos Prügel. Wann immer er einen seiner Jungs zum Rektor schickte, konnte er sich ausmalen, was dort passieren würde. Ich zog mir das Nachthemd wieder über die Schulter und griff nach dem Tablett.
    »Caroline?«, sagte er. »Sprichst du immer noch nicht?«
    Ich nickte. Nachdenklich starrte er in die Teetasse auf seinem Schoß.
    »Nicht mal mit mir?«
    Ich überlegte kurz, dann nickte ich erneut.
    »Ich bewundere deinen Kampfgeist.«
    Ich lächelte ihn an. Ja, dachte ich, immerhin habe ich noch Kampfgeist. Ihn durfte ich auf keinen Fall verlieren. Irgendetwas musste ich doch tun.
    Unvermittelt streckte er die linke Hand aus und legte mir die Finger auf die Wange. Am liebsten hätte ich mein Gesicht dagegen gepresst und geweint. Stattdessen blickte ich starr auf die dunklen Bodendielen.
    »Ich glaube kein Wort von dem, was sie über dich sagen, Caroline. Sie irren sich.«
    Ich bin überzeugt, Freundlichkeit kann einen Menschen töten. Sie ist eine gefährlichere Waffe als jede noch so scharfe Klinge.
    Eilig machte ich kehrt und verließ das Zimmer.
    Zum dritten Mal fuhr der Zug in die U-Bahnstation Bayswater ein. Oder war es bereits das vierte Mal? Seit Stunden saß ich in der Circle Line und fuhr eine Runde nach der anderen, um mich zu sammeln. Die Hauptverkehrszeit war vorbei. Bei der letzten Runde waren die meisten Leute mit

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