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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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den Nacken und presste mir ein Glas an die Lippen. Ich zählte die Blumen des Masaccio-Gemäldes über dem Kamin und ließ das Wasser über mein Kinn laufen.
    Nachts wachte ich regelmäßig im Erdgeschoss unseres Hauses auf. Einmal fand ich mich sogar am Küchentisch sitzend wieder. Ich hatte meine Schuluniform verkehrt herum angezogen und mein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. In einer Nacht hatte ich offenbar meinen Vater geweckt, denn am nächsten Morgen konnte ich mich erinnern, dass er mich aus dem Garderobenschrank gezerrt und nach oben ins Bett getragen hatte. Zweimal wachte ich sogar mitten im Garten auf. Allmählich schwanden meine Kräfte. Ich erkannte mich selbst im Spiegel kaum wieder – unter meinen Augen lagen tiefe dunkle Ringe, und meine Wangenknochen stachen aus meinem kreidebleichen, hageren Gesicht hervor.
    Der Zug verließ den U-Bahnhof Victoria, und ich ließ mich ein Stück an der gläsernen Trennscheibe abwärtsgleiten. Am liebsten wäre ich unsichtbar gewesen. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Mit dem Finger pulte ich an den in meine kleine braune Aktentasche eingestanzten Initialen herum. Am Bahnhof Embankment stieg ich aus und wechselte von der District and Circle zur Northern Line.
    Der Bahnsteig war fast leer. Offensichtlich hatte ich die letzte U-Bahn gerade verpasst. Gemächlich schlenderte ich zum hinteren Ende des Bahnsteigs. Auf dem Weg dorthin zog ich gewohnheitsmäßig an den Hebeln des Süßigkeitenautomaten. Nichts.
    Ich sah zur Anzeigetafel, auf der die sonst so frustrierende Ankündigung »Edgware Branch« stand. Wie oft waren Megan und ich durch die Tunnel gestürmt, damit wir unsere Bahn bekamen, nur um festzustellen, dass sie nach Edgware und damit in die verkehrte Richtung fuhr. Aber heute spielte es keine Rolle. Edgware war ebenso gut wie jedes andere Ziel.
    Ich setzte mich auf eine leere Bank. Ich war so weit. Ich war vorbereitet. Ich wusste, dass das, was ich vorhatte, meine einzige Alternative war. In Wahrheit war es sogar mehr als das – es war meine letzte Trumpfkarte im Ärmel. Auf diese Weise würde ich wenigstens etwas erreichen. Man würde anfangen, Fragen zu stellen. Ich malte mir aus, wie sie Miss Fowler in Handschellen abführten und aufs Polizeirevier brachten, wo sie verzweifelt um Vergebung winselte. Was für eine herrliche Vorstellung.
    In der Brieftasche auf meinem Schoß lag ein langer, streng vertraulicher Brief an Sri Chabaransha. Darin erklärte ich, weshalb mir all das zugestoßen war, dass seine Schule von den falschen Leuten geleitet wurde. Ich legte dar, weshalb ich das Gefühl hatte, meine Tat sei der einzige Ausweg, und ich auf diese Weise möglicherweise verhindern könne, dass es in Zukunft erneut zu derlei Vorkommnissen käme. Es war ein ziemlich heroisches Schreiben.
    Ich nahm den Brief heraus, faltete ihn sorgfältig zusammen und klemmte ihn unter den Griff meiner Aktentasche. Nervös begann ich mit den Fingern auf das Leder zu trommeln. Einige Fahrgäste traten auf den Bahnsteig, aber niemand kam in meine Richtung. Perfekt.
    Ich hatte durchaus meine Gründe, weshalb ich ausgerechnet diesen speziellen Bahnsteig zu dieser speziellen Uhrzeit ausgewählt hatte. Abgesehen davon, dass so gut wie niemand aus meiner Schule denselben Nachhauseweg hatte, konnte man sich hier alle paar Minuten auf eine Art Ratespiel einlassen. Ich genoss es, den Touristen zuzusehen, wenn sie beim ersten fernen Donnern des einfahrenden Zuges von den Wartebänken aufstanden und sich an die Bahnsteigkante begaben, nur um erstaunt zurückzuweichen, wenn sie feststellten, dass der Zug doch nicht einfuhr – sondern stattdessen auf dem Nebengleis angerattert kam. Erst in der letzten Sekunde wusste man, ob die U-Bahn auf dieser Seite einfuhr. Außerdem schienen die Zugführer wegen der Länge des Bahnsteigs erst im allerletzten Moment zu bremsen, so dass die Waggons in irrwitzigem Tempo aus dem Schacht angesaust kamen.
    Allesamt ideale Voraussetzungen für mein Vorhaben. Wichtig war nur jener Bruchteil einer Sekunde, den ich brauchte, um mich zu überwinden, zu springen. Dann gab es keine Chance mehr, zu kneifen, und dank der gewaltigen Geschwindigkeit des Zuges wäre ich auf der Stelle tot.
    Mit einer Mischung aus Erregung und Entsetzen hörte ich das ferne Rauschen. Ich nahm die Aktentasche von meinem Schoß. Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte auch Megan eine Nachricht hinterlassen. Hätte ihr gesagt, wie sehr ich sie liebte und wie leid es mir tue, dass

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