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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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würden. Ich warf Pater Harris einen Blick zu, der leicht amüsiert zu sein schien, während mich die gewohnte Verlegenheit durchströmte, wie immer, wenn jemand, der nicht der Organisation angehörte, Zeuge unserer Rituale wurde. Ben Sadler sprach das Gebet in Sanskrit, ehe Charles Gray übersetzte. »Es ist perfekt, es ist perfekt«, skandierte er mit seiner hohen Jungenstimme – er war ein Streber vor dem Herrn. »Dies ist perfekt und das ist perfekt. Perfekt kommt von perfekt. Nimm perfekt von perfekt, und es bleibt perfekt. Om shanti shanti shanti.«
    Trotz allem hatte ich das Gebet eigentlich immer sehr gemocht. Die Vorstellung, dass irgendwo alles perfekt war, hatte etwas Tröstliches, fand ich. Ich hörte, wie Miss Fowlers Magen ein weiteres Mal knurrte. Die Mädchen in der Reihe vor uns bekamen es ebenfalls mit, begannen zu kichern und drehten sich um, verstummten jedoch abrupt, als sie feststellten, von wem es kam.
    Das Ende des Gebets war das Stichwort für unsere Klasse aufzustehen und gemeinsam mit der entsprechenden Klassenstufe der Jungen nach vorn zum Altar zu treten. Ich war schon vor einer Ewigkeit von diesem Ritual ausgeschlossen worden und musste neben Miss Fowler warten, bis alle vorgetreten waren. In diesem Moment hörte ich, wie sie, höchst untypisch für sie, ein Rülpsen unterdrückte.
    Ich sah zu Mr   Crane, dem Musiklehrer, hinüber, der aus seiner Bankreihe trat. Er war ein großer, magerer Mann, der sich häufig an der Nase kratzte und dessen Brille seine Augen riesig wirken ließ, wie bei einem Käfer. Einmal hatte ich gewagt, ihn nach seiner Dioptrienstärke zu fragen. Augenleiden hatten mich schon immer interessiert. Daraufhin hatte Mr   Crane mich als »impertinent« bezeichnet, und als ich gefragt hatte, was »impertinent« bedeute, hatte er mich aus dem Klassenzimmer geschickt, und Miss Fowler hatte angeordnet, dass ich beim Gottesdienst nicht mitsingen durfte. Er wusste ganz genau, dass es nur von Vorteil für ihn sein konnte, mich zu bestrafen, dieser feige Mitläufer. Obwohl wir unter seiner Anleitung wie die Goldkehlchen sangen, hatte er keinerlei Kontrolle darüber, was sich im Klassenzimmer abspielte, und schickte häufig mehr Mädchen zur Strafe raus, als im Klassenzimmer bleiben durften. Einmal zählten wir sage und schreibe neunzehn Mädchen auf dem Flur. Höchstwahrscheinlich hatte er nie die Absicht gehabt, Kinder in Musik zu unterrichten, war jedoch von der Organisation dazu gezwungen worden, weil er Klavier spielen konnte.
    Mr   Crane ging nach vorn zum Altar, wo sich meine Klassenkameradinnen aufstellten. Heute hatte er alles bestens im Griff – sämtliche Anwesenden verfolgten jede seiner Handbewegungen.
    Als sich alle in Position gebracht hatten und das Rascheln und Füßescharren verklungen war, hob er die Hände. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mit einem Mal hob der Chor Regina Coeli an, und ich war völlig überwältigt von der Wucht der etwa achtzig Stimmen. Es klang so wunderschön, so erhebend. Die ganze Welt sollte Regina Coeli lauschen, fand ich. Wie sehr ich mir wünschte, mitsingen zu dürfen. Ich wünschte, nicht so verhasst zu sein. Ich wünschte, ich wäre erwachsen. Ich wünschte, die U-Bahn hätte mich erfasst.
    Nach einer Weile hörte ich, wie Miss Fowler ein Husten unterdrückte und sich ihr Taschentuch aufs Gesicht presste. Mit der anderen Hand strich sie über ihr Kleid. Ich sah ihre schwitzigen Handflächen. Irgendetwas stimmte nicht, denn sie wischte sich pausenlos die Stirn. Ich wandte mich ihr zu. Ihr Gesicht war kreidebleich, fast gräulich, und mit einem Mal dämmerte mir, was mit ihr los war.
    Sie holte hörbar Luft, ehe sie versuchte, aufzustehen, was ihr jedoch nicht gelang. In der nächsten Sekunde übergab sie sich heftig auf die Gebetbank und ihr flaschengrünes Kleid. Mit entsetztem Staunen sah ich zu, unfähig, mich zu bewegen, den Blick auf die weiße, schaumige Masse geheftet, die aus ihrem Mund explodierte.
    Die Leute um uns herum standen auf und traten angewidert zurück, während der Chor verstummte. Miss Fowler übergab sich unbeirrt weiter. Schließlich erhob sich Mr   Mercer, und Mrs   Gentle trat aus ihrer Bankreihe, um Miss Fowler zu Hilfe zu kommen. Sie half ihr beim Aufstehen, führte sie auf den Mittelgang und in Richtung Kirchentür. Noch immer hallte Miss Fowlers Würgen in der Stille des Gotteshauses.
    Der Truthahn eilte währenddessen umher und sorgte für Ordnung. Mit strenger Miene sah er

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