So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
mopsgesichtiger Mann mit schimmernder Glatze namens Pater Harris, traute uns nicht über den Weg. Er wusste, dass wir keine richtigen Christen waren, konnte uns aber nicht recht einordnen – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Einmal, als Deborah und ich ihm bei den Vorbereitungen für den Gottesdienst helfen mussten – seine Roben falten, Kerzen sortieren und solche Dinge – sagte er zu uns: »Es wäre geradezu ein Wunder, wenn wir rechtzeitig fertig werden würden.« Darauf erwiderte ich, er könne von Glück sagen, dass er überhaupt an Wunder glaube. »Eigentlich tue ich das gar nicht«, meinte er. Ich war schockiert. »Aber was ist mit dem Wasser, das zu Wein wird, mit dem Wunder der Brotvermehrung und der Heilung durch die Berührung des Saums von Jesus’ Gewand?«, fragte ich. »Ach was, alles nur Geschichten«, wiegelte er ab und machte sich wieder ans Zählen dieser runden Papierdinger, von denen die Katholiken glauben, sie würden sich in den Körper von Jesus Christus verwandeln. Seine Offenheit gefiel mir. Allerdings hätte es mich nicht weiter überraschen müssen, denn bei der Mehrzahl seiner Predigten kam seine Katze am allerbesten weg.
Pater Harris stand also am Portal von St. Mary’s und beobachtete argwöhnisch, wie sämtliche Angehörige der Schule in vollkommenem Schweigen an ihm vorbeidefilierten. Währenddessen umschmeichelte seine Katze mit den blauen Augen in symmetrischen Achterkreisen seine in Hush Puppies steckenden Füße.
Wir alle gingen sehr gern zum Schulgottesdienst. Wegen der Musik. Jeden Tag sangen wir stundenlang; nicht nur die albernen Kompositionen aus Whoppers Feder, sondern auch Regina Coeli , Laudamus te und Domine Deus . Allein diesen Liedern zu lauschen, genügte, um mich aus meiner Trübseligkeit zu reißen. Was auch immer mich gerade quälte, konnte ich für ein paar Minuten vergessen. Ich liebte jene Augenblicke: den Gleichklang unserer Atemzüge, wenn sich all die einzelnen Stimmen zu einem großen Ganzen vereinten, die der Jungen und der Mädchen, die Bass-, Alt- und Sopranstimmen – reine Magie für mich. Die schlimmste Strafe, die Miss Fowler mir aufbrummen konnte, war das Verbot, in der Kirche zu singen. Was sie selbstverständlich getan hatte. Aber zumindest war ich hier; zwar getrennt von den anderen, aber immerhin anwesend.
Das war ein weiterer Vorteil der Gottesdienste. Es war eine Seltenheit, dass alle versammelt waren, Mädchen und Jungen. Normalerweise versuchten die Mädchen, die einen Freund hatten, einen Platz ganz außen an der Bank zu ergattern, ebenso wie die Jungs. Auf diese Weise konnten wir den gesamten Gottesdienst über zählen, wie oft wir einander zulächelten. Doch die Lehrer waren uns irgendwann auf die Schliche gekommen und belegten seitdem diese Plätze mit Beschlag.
An diesem Tag hielt Miss Fowler mich unter besonders schwerer Bewachung, da Vertreter des männlichen Geschlechts anwesend waren. Ihre bläulich rote Klaue grub sich in meine Schulter, als ich versuchte, in die Bankreihe zu schlüpfen, in der sich meine Freundinnen versammelt hatten. Sie hielt mich mit eisernem Griff fest, bis alle ihre Plätze eingenommen hatten, ehe sie mich in eine Bank in der Mitte des Kirchenschiffs schob. Ein paar Mädchen rutschten auf, um Platz für uns zu machen. Sie setzte sich so dicht neben mich, dass sich unsere Oberschenkel berührten.
Mir fiel auf, dass sie die Reihe ausgesucht hatte, die sich auf derselben Höhe wie die von Mr Mercer befand, was ziemlich praktisch gewesen wäre, wenn ich Lust gehabt hätte, Marcus zuzulächeln, der neben ihm saß. Aber in letzter Zeit stand mir der Sinn nicht allzu sehr nach Lächeln. Marcus konnte sich ebenso gut eine neue Freundin suchen. Ich wusste, dass Megan ihn gut leiden konnte. Wenn er wollte, konnte er ja sie anlächeln und mit ihr an der Gloucester Road knutschen.
Mr Steinberg saß drei Reihen hinter Mr Mercer, fing meinen Blick auf und griff nach seinem Gesangbuch. Ich hatte weder Megan noch sonst jemandem von dem erzählt, was am Vortag geschehen war, weil ich nicht recht verstand, was es gewesen war.
Ich war allein im Umkleideraum gewesen und hatte mich beeilen müssen, in die Sportstunde zu kommen, da ich zuvor losgeschickt worden war, um eine Besorgung zu machen. Die anderen übten bereits Seilklettern. Ich hörte das Quietschen ihrer Turnschuhe auf dem Steinfußboden. Hastig zog ich mich um – ich hasste es, zu spät zu kommen. Gerade als ich splitternackt auf einem Bein
Weitere Kostenlose Bücher