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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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balancierte, um in meine Sporthose zu schlüpfen, ging die Tür auf, und Mr   Steinberg stand mit verblüffter Miene vor mir.
    »Oh, tut mir schrecklich leid«, sagte er und lief dunkelrot an. »Bitte entschuldige.« Eilig schloss er die Tür.
    Ich sah an mir hinunter. Mein Körper hatte gerade angefangen, fraulich zu werden, und veränderte sich praktisch täglich. Meine Brüste rundeten sich, und ich bekam Hüften, eine Taille und Schamhaare.
    All das hatte er gesehen. Und es störte mich nicht im Mindesten. Ganz und gar nicht.
    Ich verließ den Umkleideraum und wollte mich auf den Weg zu den anderen machen, als ich Mr   Steinberg im Gespräch mit Mr   Baker auf dem Korridor stehen sah. Er sah nicht herüber, doch mir fiel auf, dass er erneut rot wurde, als ich vorbeiging.
    Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, welche Macht ich besaß, weil ich eine Frau war.
    In der Reihe hinter Mr   Steinberg saß Mr   Baker und dahinter der Truthahn, der mich jedoch nicht bemerkte. Bei Gelegenheiten wie dieser nahm er grundsätzlich keine Notiz von mir.
    »Hör auf, dich ständig umzudrehen!«, zischte Miss Fowler.
    Ich sah auf ihre Hände hinunter – auf die roten, rissigen Klauen mit den leicht geschwollenen Fingern, angemessen kurz geschnittenen Nägeln und einem Tintenfleck auf der Innenseite ihres Daumens. Sie umklammerte eine glänzende schwarze Handtasche, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Sie musste neu sein. Ebenso wie ihr Kleid, ein flaschengrünes, hochgeschlossenes, bodenlanges Etwas. In diesem Moment dämmerte mir, dass sie diesen Gottesdiensten ebenso entgegenfieberte wie wir. Sie wandte den Kopf ab, und ich ertappte sie dabei, wie sie Mr   Mercer zulächelte. Ich sah zu Mr   Mercer hinüber und spürte, wie Marcus neben ihm versuchte, Blickkontakt mit mir herzustellen. Es hätte eine nette Viererpartie werden können, wären da nicht eine Million Gründe gewesen, die gegen diese Union sprachen. Doch Miss Fowlers Lächeln traf nicht auf fruchtbaren Boden. Mr   Mercer hatte es noch nicht einmal bemerkt, sondern sah jemanden an, der einige Bankreihen vor uns saß. Im selben Moment wie Miss Fowler wandte ich den Kopf um – Mrs   Gentle. Allem Anschein nach war er mit ihr in Berührung gekommen, denn ihr Atem stank nach Nikotin. Die Winkel von Mrs   Gentles schmalem Mund hoben sich, als sie Mr   Mercers Lächeln erwiderte. Miss Fowler merkte es, ich merkte es, und sie merkte, dass ich es gemerkt hatte.
    Natürlich ließ sie ihren Unmut an mir aus. Ich hatte das Liederblatt des heutigen Gottesdienstes zu einem Schiffchen gefaltet, das sie mir nun mit einer so heftigen Bewegung abknöpfte, dass es zerriss.
    Wir erhoben uns alle gemeinsam, um To be a Pilgrim anzustimmen. Amy und Deborah durften ein Solo singen, deshalb sahen alle zu ihnen hinüber. Für den Bruchteil einer Sekunde fing ich Marcus’ Blick auf, doch es war unendlich peinlich, an Miss Fowler gekettet zu sein. Prompt ertappte uns Mr   Steinberg, der ein paar Reihen weiter hinten saß. Miss Fowler hatte es ebenfalls mitbekommen, denn sie strafte mich mit einem vernichtenden Blick, ehe sie plötzlich merkwürdig zu blinzeln begann. Mir fiel auf, dass ihre Augen rot gerändert und ihr Teint seltsam gelblich waren. Sie presste kurz die Lippen aufeinander, dann sang sie weiter. Ihre Stimme war dünn und piepsig, wie die einer Maus.
    Wieder blinzelte sie, langsam und mehrmals hintereinander, als hätte sie etwas im Auge. Schließlich riss sie die Augen auf, blickte zu den hölzernen Dachbalken des Kirchenschiffs hinauf und betrachtete sie eigentümlich starr. Ich folgte ihrem Blick, konnte jedoch nichts entdecken, was sie dort oben so faszinierend finden könnte. Nach einer Weile öffnete sie den Mund und blinzelte erneut, so als versuche sie, irgendetwas klar zu erkennen. Dann begann sie in der Tasche ihrer Strickjacke nach etwas zu suchen, konnte es aber nicht finden. Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein zerknülltes, tintenbekleckertes Taschentuch heraus.
    Leises Unbehagen sowie ein Anflug gespannter Erregung erfasste mich.
    Miss Fowler setzte sich, noch bevor wir zu den letzten beiden Liedzeilen kamen. Es war ziemlich beunruhigend, plötzlich auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Dann, in der Stille nach dem Verklingen des Liedes, hörte ich ihren Magen laut und unheilvoll grollen.
    Charles Grey und Ben Sadler traten zur Kanzel und verkündeten mit dünnen, klaren Stimmen, dass sie nun ein Gebet aus den Upanishaden verlesen

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