So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Gegensatz zu dem stand, was sich gerade vor der Kirche abspielte.
Meine Knie schlotterten so sehr, dass sie gegeneinander schlugen. Wird mir jemals vergeben werden? Wird mir jemals vergeben werden?
Endlich gelang es mir, den Wasserhahn aufzudrehen und die Vase zu füllen. Ich machte kehrt und rannte durch die Sakristei wieder nach draußen. Mittlerweile war Regina Coeli in ruhigeren Gefilden angekommen. Der Truthahn hatte alle bestens im Griff, so dass sich keiner umdrehte. Die Kirchentüren waren inzwischen geschlossen worden. Eilig steuerte ich darauf zu und öffnete sie, wobei etwas Wasser über den Vasenrand schwappte.
Miss Fowler lag noch immer inmitten einer Pfütze aus Erbrochenem, regte sich jedoch nicht mehr. Ich stellte die Vase neben Mrs Gentle, die ihr etwas Wasser ins Gesicht und auf ihr verschmutztes Haar spritzte, doch Miss Fowler rührte sich nach wie vor nicht. Stattdessen waren ihre Augen in den Höhlen nach hinten gekippt, was sie wie eine gruselige Version von Ginger, der altägyptischen Mumie im British Museum, aussehen ließ.
Sirenengeheul ertönte, und Sekunden später hielt ein Krankenwagen unmittelbar vor der Kirche. Drei Sanitäter in Arbeitskluft im selben Grünton wie Miss Fowlers Kleid sprangen heraus, einer von ihnen riss die Heckklappe auf, während die beiden anderen herbeigelaufen kamen.
Ich schwöre, Gott, ich schwöre, Gott, dass ich für den Rest meines Lebens brav sein werde, wenn du sie rettest. Ich schwöre. Ich schwöre.
Einer der Sanitäter legte die Finger auf Miss Fowlers Hals und sah auf die Uhr. Dann beugte er sich vor und küsste sie. Ja, genau, ein Mann beugte sich über Miss Fowler und küsste sie. Wäre sie bei Bewusstsein gewesen, wäre sie vor Verlegenheit bestimmt gestorben. Mit offenem Mund stand ich da und beobachtete das Szenario. Doch sie regte sich nicht, sondern lag mit schlaff herabhängenden Armen da.
Er legte die Hände aufeinander und begann mit kräftigen Stößen auf ihre Brust zu drücken, woraufhin einer ihrer Arme nach oben schnellte, als wäre sie eine Puppe.
Noch mehr Sirenen ertönten, und als ich aufsah, rauschte ein Streifenwagen in einem Tempo neben den Krankenwagen, was verriet, dass es sich hier um einen echten Notfall handelte. Ein großer, bärtiger Polizist stieg aus und schlug lautstark die Autotür zu, ehe er mit einem kurzen Blick nach links und rechts um den Wagen herumgetrabt kam. Er sah mir geradewegs in die Augen. Und sah die Schuld darin stehen.
Sie werden mich verhaften. O Gott, nein, sie werden mich verhaften. Ich blickte zum Kirchturm empor. Bitte, hilf mir, Gott. Bitte, bitte, hilf mir.
Der Himmel war blau, die Bäume voll leuchtend grüner, saftiger Blätter. In diesem Moment hörte ich eine Stimme in meinem Kopf sagen: »Lauf! Hau ab!«
Ich stürzte über die Straße. In all der Aufregung achtete niemand auf ein Schulmädchen mit einem fleckigen Kleid. Ich musste ins Schulgebäude und meinen Blazer mit meiner U-Bahnfahrkarte und meinem Hausschlüssel holen. Dann musste ich nach Hause fahren und mir etwas Sauberes anziehen und dann … keine Ahnung. Wohin geht man, wenn man einen Menschen ermordet hat? Wohin geht eine Mörderin?
Ich betrat das Schulgebäude, und gerade als ich die Treppe ins Untergeschoss hinunterlaufen wollte, traten mehrere Mütter mit Körben voll Brot und Obst aus einer Tür und schwebten, Rocksaum an Rocksaum, den Korridor entlang. Sie sahen aus wie diese tanzenden Figuren aus einem Scherenschnitt und schienen guter Dinge zu sein, was nicht weiter erstaunlich war, da sie von den Vorfällen auf der anderen Straßenseite nichts mitbekommen hatten. Da war sie, meine Mutter, deren schlaffes, gräuliches Haar zum obligatorischen Knoten im Nacken frisiert war, in einem ihrer geblümten, sackartigen Kleider, das Gesicht zu einem dünnen Lächeln verzogen. Sie brauchte nur den Kopf zu heben und herüberzusehen. Ich wünschte inbrünstig, sie täte es. Ich sehnte mich danach, zu ihr zu laufen und mich in ihre Arme zu werfen. So wie ich es bei anderen Kindern mit ihren Müttern beobachtet hatte. Ich sehnte mich danach, dass sie die Arme um mich legte und mich beruhigte. »Keine Sorge, Caroline, es wird alles gut. Du kommst jetzt mit mir, mein Liebling, ich bringe dich von diesem schrecklichen Ort weg. Ich hätte auf dich hören müssen. Diese Frau hat dich förmlich dazu getrieben. Sie wollte es nicht anders.« Aber ich wusste, dass es dazu niemals kommen würde. Meine Mutter würde mein Wohlergehen
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